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Erscheinung:15.02.2016 | Thema Verbraucherschutz Private Krankenversicherung: Bestandswirksame Änderungen der Allgemeinen Versicherungsbedingungen

Private Krankenversicherungsunternehmen müssen der BaFin gemäß § 158 Absatz 1 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) anzeigen, wenn sie neue oder geänderte Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) verwenden wollen. Dies betrifft substitutive Krankenversicherungsverträge, also solche, die den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz ganz oder teilweise ersetzen.

Die BaFin hat festgestellt, dass den Versicherern teilweise nicht klar ist, welche Anforderungen sie beachten müssen, damit Änderungen der AVB bestandswirksam sind. Maßstab für jede einseitige Änderung der AVB ist § 203 Absatz 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Der vorliegende Beitrag erläutert, wie die folgende Norm aus Sicht der BaFin zu verstehen ist:

§ 203 Absatz 3 Versicherungsvertragsgesetz
Ist bei einer Krankenversicherung […] das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gesetzlich oder vertraglich ausgeschlossen, ist der Versicherer bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung der Verhältnisse des Gesundheitswesens berechtigt, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Tarifbestimmungen den veränderten Verhältnissen anzupassen, wenn die Änderungen zur hinreichenden Wahrung der Belange der Versicherungsnehmer erforderlich erscheinen und ein unabhängiger Treuhänder die Voraussetzungen für die Änderungen überprüft und ihre Angemessenheit bestätigt hat.

Voraussetzungen

Substitutive Krankenversicherungsverträge sind in der Regel auf einen lebenslangen Versicherungsschutz ausgerichtet. Hierbei gilt grundsätzlich der zivilrechtliche Grundsatz „pacta sunt servanda“, also das Prinzip der Vertragstreue. Dieses besagt, dass beide Vertragsparteien an den geschlossenen Vertrag gebunden sind und keine Partei diesen einseitig ändern oder aufheben kann. Davon weicht § 203 Absatz 3 VVG ab. Er räumt den Versicherern ein einseitiges Umgestaltungsrecht für Verträge ein, bei denen das ordentliche Kündigungsrecht ausgeschlossen ist und deren Prämien nach Art der Lebensversicherung berechnet werden, bei denen also eine Alterungsrückstellung gebildet wird.

Der Versicherer darf den Vertrag anpassen, wenn sich die Verhältnisse im Gesundheitswesen dauerhaft geändert haben. Zusätzlich muss die Anpassung erforderlich erscheinen, um die Belange der Versicherten hinreichend zu wahren. Ein unabhängiger Treuhänder muss überprüft und bestätigt haben, dass dies der Fall ist. Das Gesetz spricht ausdrücklich von einer Anpassungsberechtigung und nicht von einer Verpflichtung. Der Versicherer hat also einen Ermessensspielraum, es sei denn, eine Änderung ist verpflichtend umzusetzen. Das kann insbesondere Gesetzesänderungen betreffen.

Nach allgemeiner Auffassung ist die Vorschrift als Sonderfall des Tatbestands „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ zu qualifizieren (§ 313 Bürgerliches Gesetzbuch) beziehungsweise ist an diesen angelehnt. Er ermöglicht es unter bestimmten und im Zweifel eng auszulegenden Voraussetzungen, einen Vertrag nachträglich zu korrigieren. Vor diesem Hintergrund ist auch § 203 Absatz 3 VVG eng auszulegen, zumal bei der Bedingungsanpassung in vertragliche Hauptleistungsversprechen eingegriffen wird.

Veränderte Verhältnisse im Gesundheitswesen

Das Anpassungsrecht des Versicherers aufgrund veränderter Verhältnisse im Gesundheitswesen gilt sowohl bei Erweiterungen als auch bei Einschränkungen der Leistung. Es muss sich um eine Veränderung handeln, die dauerhaft ist. Der Versicherer hat hierzu eine Prognose der künftigen Entwicklung abzugeben.

Außerdem ist zu differenzieren, ob sich die tatsächlichen oder die rechtlichen Verhältnisse im Gesundheitswesen geändert haben. Eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn das vertraglich vereinbarte Leistungsversprechen den tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr entspricht. Rechtliche Veränderungen können sich etwa aufgrund neuer Gesetze ergeben.

Änderung der tatsächlichen Verhältnisse

Leistungserweiterungen sind nur möglich, wenn eine Veränderung so wesentlich ist, dass sie eine grundlegende Neuerung darstellt oder wenn der Versicherer plausibel nachweist, dass faktisch eine grundlegende Neuerung zu erwarten ist.

Zu nennen ist hier etwa der medizinische Fortschritt. Wenn gänzlich neue Heilmittel, Methoden, Verfahren oder Technologien eingeführt werden, handelt es sich dabei um grundlegende Neuerungen. Die bloße Fortentwicklung vorhandener Diagnose- oder Behandlungsmethoden hingegen zählt nicht dazu. Ein Indiz für eine grundlegende Neuerung kann die Aufnahme einer Leistung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sein.

Kostensteigerungen, die nachweislich zu erwarten sind, können grundsätzlich ebenfalls eine tatsächliche Veränderung begründen. Dies ist etwa der Fall, wenn die Versicherten häufiger ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine Änderung tatsächlicher Verhältnisse liegt jedoch nicht vor, wenn beispielsweise die durchschnittlichen Fallkosten zunehmen, ohne dass sonstige Veränderungen zu beobachten sind. In solchen Fällen können die Versicherer gegebenenfalls die Prämien anpassen.

Hat ein Versicherer die in Frage stehenden Leistungen bislang bereits im Rahmen der Kulanz erbracht, kann er damit keine Leistungserweiterung begründen, denn die Kulanz entspricht nicht der Vertragslage. Sie stellt daher keine Änderung tatsächlicher Verhältnisse im Sinne des § 203 Absatz 3 VVG dar. Das gleiche gilt, wenn sich lediglich bei den Versicherungsnehmern die Erwartung gebildet hat, eine bestimmte Leistungserweiterung in Anspruch nehmen zu können. Erwartungshaltungen werden weder vom Gesetzeswortlaut noch von Sinn und Zweck der Norm umfasst. Versicherungsnehmer können gemäß § 204 VVG ihren Tarif wechseln, wenn dieser nicht (mehr) ihren Bedürfnissen entspricht. Politische Erwartungshaltungen können erst dann berücksichtigt werden, wenn sie in entsprechenden Gesetzesänderungen ihren Niederschlag gefunden haben.

Um Leistungen einschränken zu können, muss ebenfalls nachweislich eine wesentliche Veränderung vorliegen. So kann beispielsweise eine Leistung aufgrund medizinischer Entwicklungen nicht mehr gebräuchlich oder zeitgemäß sein.

Änderung der rechtlichen Verhältnisse

Versicherer dürfen die AVB und Tarifbedingungen bestehender Verträge an Gesetzesänderungen anpassen, beispielsweise bei Änderungen der Vergütungsordnungen für medizinische Leistungen oder Anpassungen der Beihilfevorschriften. Verpflichtet sind sie dazu jedoch nur, wenn die Gesetzesänderung dies zwingend vorgibt. In der privaten Pflegepflichtversicherung gelten Besonderheiten: Wird etwa das Neunte Buch Sozialgesetzbuch geändert, dann müssen Versicherer ihre AVB und Tarifbedingungen so anpassen, dass sie den Regeln der sozialen Pflegeversicherung entsprechen, zum Beispiel hinsichtlich der Pflegebedürftigkeit (§ 23 Absatz 6 Nr. 1 SGB XI).

Keine Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt nach Urteilen des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2007 (Az. IV ZR 130/06 und Az. IV ZR 144/06) vor, wenn AVB und Tarifbedingungen von der Rechtsprechung lediglich anders ausgelegt werden. Denn die Formulierung der Versicherungsbedingungen falle in den Verantwortungsbereich des Versicherers, so dass er auch das Risiko trage, wenn die Versicherungsbedingungen für ihn nachteilig ausgelegt würden.

Ein Anpassungsrecht steht Versicherern auch zu, wenn eine Klausel der AVB durch höchstrichterliche Entscheidung oder bestandskräftigen Verwaltungsakt für unwirksam erklärt worden ist. Dies gilt allerdings nur, wenn die Änderung notwendig ist, um den Vertrag fortzuführen, oder wenn das Festhalten an der Klausel für eine Vertragspartei eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 164 VVG).

Intensität der Veränderung

Nicht jede Veränderung der Verhältnisse im Gesundheitswesen berechtigt zu einer Änderung des Vertrags. Eine Änderung kommt auf jeden Fall in Frage, wenn die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Krankenversicherungsverhältnis betroffen ist, diese also nicht mehr gleichwertig sind, oder wenn die Finanzierbarkeit des jeweiligen Tarifs nicht mehr gewährleistet ist. Dies steht zwar so nicht ausdrücklich im Gesetz, entspricht jedoch dem Rechtscharakter der Norm. Der Versicherungsnehmer wäre ansonsten willkürlich der Gefahr von Vertragsänderungen ausgesetzt.

§ 203 Absatz 3 VVG besagt darüber hinaus nicht, dass ein Versicherer den Vertrag erst dann ändern darf, wenn ihm dessen Fortführung mit dem ursprünglichen Inhalt nicht mehr zugemutet werden kann. Vielmehr reicht es aus, wenn dies zu befürchten ist. Der Versicherer muss dies also prognostizieren. Für Leistungsverbesserungen braucht er also nicht erst abzuwarten, bis der Leistungskatalog derart „hinkt“, dass die Prämie den Versicherungsschutz nicht mehr abbildet. Er kann schon im Vorfeld eingreifen, um weiterhin einen effektiven Versicherungsschutz zu gewährleisten.

Redaktionelle und klarstellende Änderungen der AVB und Tarifbedingungen, die sich materiell nicht auf den Regelungsinhalt auswirken, können von den dargestellten Grundsätzen ausgenommen werden.

Wahrung der Versichertenbelange

Wie bereits erwähnt, darf der Versicherer den Vertrag nur dann anpassen, wenn dies erforderlich erscheint, um die Belange der Versicherten hinreichend zu wahren. Das ist der Fall, wenn eine prognostische Beurteilung ergibt, dass die Versicherten ohne die Anpassung eine Beeinträchtigung ihrer Interessen befürchten müssten. Dabei kommt es auf die Belange der Versicherungsnehmer in ihrer Gesamtheit an. Es handelt sich also um eine abstrakt-objektive Betrachtungsweise. Eine Verbesserung für die Versichertengemeinschaft kann somit durchaus auch mit Nachteilen für einzelne Versicherte oder hinsichtlich einzelner Leistungen verbunden sein. Das Interesse der Versicherungsnehmer ist in erster Linie auf die dauernde Erfüllbarkeit der Verträge und damit auf den Erhalt der versicherungsvertraglichen Hauptleistung des Versicherers ausgerichtet.

Aufgrund der Vertragsfreiheit und der daraus resultierenden Produktgestaltungsfreiheit existieren vielgestaltige private Krankenversicherungstarife. Das Spektrum reicht vom Basisschutz bis hin zu einem sehr weitreichenden Premium-Versicherungsschutz. Es hängt daher auch von der jeweiligen Ausgestaltung des Tarifs ab, ob und inwieweit eine Anpassung in Betracht kommt. Maßgeblich ist dabei der Tarif in seiner ursprünglichen Ausgestaltung. Eine grundlegende Änderung des Vertrags ist nicht möglich. Eine „schleichende Vertragsumgestaltung“ hat der Versicherer ebenfalls zu vermeiden.

Außerdem muss die Anpassung geeignet, erforderlich und angemessen sein. Bei der Angemessenheit kann auch eine Rolle spielen, wie sich die Anpassung auf die Kosten auswirkt und ob eventuelle Beitragserhöhungen den Versicherungsnehmern zumutbar sind. Dabei kann es vorkommen, dass Leistungsverbesserungen durch den Schadenverlauf der neuen Leistungen erst später eine Beitragserhöhung notwendig machen, die Versicherungsnehmer also erst nach mehreren Jahren schlechter stellen.

Zustimmung des Treuhänders

Die Voraussetzungen der Bedingungsanpassung sind von einem Treuhänder zu überprüfen. Die Änderung kann nur vorgenommen werden, wenn der Treuhänder bestätigt, dass sie angemessen ist. Ein darüber hinausgehendes Mitentscheidungsrecht hat er nicht.

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

Autor: Anna Faßbender, BaFin

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