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Erscheinung:09.06.2016 | Geschäftszeichen ED WA-Wp 1000-2016/0001 | Thema Risikomanagement Allgemeinverfügung zu Nettingvereinbarungen im Anwendungsbereich des deutschen Insolvenzrechts

Bekanntmachung der Allgemeinverfügung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nach § 4a WpHG zur Sicherstellung der Rechtssicherheit von Nettingvereinbarungen im Anwendungsbereich des deutschen Insolvenzrechts

I. Allgemeinverfügung

1. Auf Grundlage des § 4a des Wertpapierhandelsgesetzes („WpHG“) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2708), das zuletzt durch Art. 3 des Gesetzes vom 10. Mai 2016 (BGBl. I S. 1142) geändert worden ist, wird Folgendes angeordnet:

Die in Art. 295 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 („CRR“) (ABl. L 321 vom 30.11.2013, S. 6 ff.) beschriebenen vertraglichen Nettingvereinbarungen, für die vereinbart ist, dass das Institut oder sein Vertragspartner bei Ausfall einer der beiden Parteien nur auf den Saldo der positiven und negativen Marktwerte der erfassten Einzelgeschäfte einen Anspruch hat oder zu dessen Zahlung verpflichtet ist, sind von den Vertragspartnern – einschließlich solcher Personen, die als Partei kraft Amtes für und gegen einen Vertragspartner handeln – vereinbarungsgemäß abzuwickeln.

Die vorstehende Anordnung findet keine Anwendung auf Sachverhalte, über die bis zum Tage der Bekanntgabe dieser Allgemeinverfügung eine rechtskräftig titulierte Forderung oder Feststellung erlangt wurde oder ein gerichtliches Verfahren anhängig oder ein Insolvenzverfahren eröffnet ist.

2. Für Zwecke dieser Allgemeinverfügung bezeichnet der Ausdruck

(i) „Institut“ ein Institut im Sinne des § 1 Abs. 1b des Kreditwesengesetzes („KWG“) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2766), das zuletzt durch Art. 14 Absatz 2 des Gesetzes vom 10. Mai 2016 (BGBl. I S. 1142) geändert worden ist, sowie jede Einrichtung mit Sitz im Ausland die, wenn sie im Inland ansässig wäre oder Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen erbringen würde, als Institut den Vorschriften des KWG unterläge;

(ii) „Marktwerte“ den durch eine Bewertung zu Marktpreisen oder durch eine Bewertung zu Modellpreisen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nrn. 68 und 69 CRR ermittelte Wert eines Einzelgeschäftes;

(iii) „Ausfall“ jeden der in Art. 178 CRR beschriebenen Fälle, insbesondere die in Art. 178 Abs. 3 Buchstaben e) oder f) CRR beschriebenen Elemente;

(iv) „Einzelgeschäft“ jede Finanzleistung im Sinne des § 104 Abs. 2 InsO, jedes der in Art. 273 Abs. 2 CRR genannten Geschäfte sowie jedes Geschäft mit Bezug auf Waren und Emissionsberechtigungen, das ausschließlich durch Lieferung zu erfüllen ist.

(v) Der Ausdruck „Vertragspartner“ schließt Institute im Sinne der Allgemeinverfügung mit ein.

(vi) „abzuwickeln“ schließt ein: die Beendigung der in das Netting einbezogenen Einzelgeschäfte, die Ermittlung der Marktwerte für die Geschäfte und die Zusammenfassung zu einer einheitlichen Ausgleichsforderung.

3. Diese Allgemeinverfügung tritt am 10.06.2016, 0.00 Uhr in Kraft und gilt bis zum 31.12.2016, 24.00 Uhr.

4. Diese Allgemeinverfügung ergeht unter Vorbehalt des Widerrufs gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz („VwVfG“).

5. Diese Allgemeinverfügung gilt am Tage nach ihrer Bekanntmachung als bekannt gegeben (§ 41 Abs. 4 S. 4 VwVfG).

II. Begründung:

Diese Verfügung beruht auf § 4a Abs. 1 Satz 1 WpHG.

Danach kann die Bundesanstalt im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank Anordnungen treffen, die geeignet und erforderlich sind, Missstände, die Nachteile für die Stabilität der Finanzmärkte bewirken oder das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte erschüttern können, zu beseitigen oder zu verhindern.

1. Sachverhalt

Der Bundesgerichtshof hat in dem Verfahren IX ZR 314/14 am 9. Juni 2016 in einem Einzelfall folgenden Urteilstenor verkündet:

  • Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des 16. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Dezember 2013 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Klägerinnen erkannt worden ist.
  • Die Anschlussrevision der Beklagten wird zurückgewiesen.
  • Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  • Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 30.000.000 € festgesetzt.

Der vom Gericht hierzu verkündete Leitsatz des Urteils lautet:

„Treffen Parteien von Aktienoptionsgeschäften, die dem deutschen Recht unterliegen, für den Fall der Insolvenz eine Abrechnungsvereinbarung, die dem § 104 InsO widerspricht, ist diese insoweit unwirksam und die Regelung des § 104 InsO unmittelbar anwendbar.“

Die schriftlichen Urteilsgründe liegen bislang nicht vor. Die nachfolgend zugrunde gelegten Annahmen bezüglich der Konsequenzen der Entscheidung beruhen auf dem aktuellen Kenntnisstand.

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das Bundesministerium der Finanzen haben am 9. Juni 2016 erklärt, dass, sollte sich nach sorgfältiger Prüfung ergeben, dass das Urteil über den Einzelfall hinaus Auswirkungen auf die Akzeptanz des Rahmenvertrags im Markt und von Aufsichtsbehörden hat, die Bundesregierung unmittelbar gesetzgeberische Maßnahmen für eine kurzfristige Klarstellung oder Präzisierung der betroffenen Vorschriften des Insolvenzrechts auf den Weg bringen wird, um zu gewährleisten, dass die gängigen Rahmenverträge auch weiterhin im Markt und von Aufsichtsbehörden anerkannt werden. Die Ministerien erklären, dass auf diese Weise sichergestellt werden soll, dass die Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin - wie sämtliche Mitgliedstaaten der EU - zu den Jurisdiktionen gehört, in denen Finanztermingeschäfte wirksam in die üblichen Rahmenverträge eingebunden werden können.

Die Erklärung der Ministerien kann auf der Internetseite des Bundesministeriums der Finanzen abgerufen werden.
Vertragliche Nettingvereinbarungen, wie sie dem vom Bundesgerichtshof beurteilten Sachverhalt zugrunde liegen, werden in zahlreichen Rahmenverträgen verwendet. Sie sind Musterklauseln, die nicht nur in dem vom Bundesgerichtshof bewerteten Deutschen Rahmenvertrag verwendet werden, sondern in dieser oder leicht abweichender Form auch in zahlreichen weiteren Mustervertragswerken angewendet werden. Diese Musterklauseln sind in Musterrahmenverträgen vorgesehen, wie sie z. B. von der International Swaps and Derivatives Association („ISDA“) erstellt werden. Die Bundesanstalt geht davon aus, dass derartige Vertragsklauseln in einer sehr hohen Anzahl von Verträgen verwendet werden, die im Insolvenzfall ggf. der deutschen Insolvenzordnung unterliegen. Derzeit kann nicht abgeschätzt werden, ob und wenn ja, welche der zahlreich verwendeten Vertragsklauseln von dem Urteilsspruch des Bundesgerichtshofs erfasst sind.

2. Voraussetzungen des § 4a Abs. 1 Satz 1 WpHG

Vor dem Hintergrund, dass die Tragweite des Urteilsspruchs des Bundesgerichtshofs noch nicht abschließend eingeschätzt werden kann und dass sich hierdurch zahlreiche Fragestellungen im Hinblick auf die Anwendung europarechtlicher Vorgaben stellen, die zu einer erheblichen Verunsicherung der Finanzmarktakteure und damit zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte führen können, hat sich die Bundesanstalt entschieden, die vorstehende Allgemeinverfügung zu erlassen, um einen dadurch entstehenden Missstand zu verhindern und das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wieder herzustellen und negative Auswirkungen auf die Finanzmarktstabilität zu vermeiden.

a) Unsicherheit über den Anwendungsbereich des Urteils

Wie bereits dargelegt, kann derzeit (u.a. aufgrund der fehlenden Urteilsgründe) nicht abschließend eingeschätzt werden, welche der zahlreichen von den Finanzmarktakteuren verwendeten vertraglichen Nettingvereinbarungen in den Anwendungsbereich des Urteils des Bundesgerichtshofs fallen. Selbst nach Veröffentlichung der Urteilsgründe können insoweit Abgrenzungs- und Auslegungsfragen offen bleiben.

Dies führt zu einer erheblichen Verunsicherung der Finanzmarktakteure. Es ist wahrscheinlich, dass diese Verunsicherung dazu führt, dass die Finanzmarktakteure bereits vor diesem Hintergrund eventuell keine weiteren Geschäftsaktivitäten unter den bestehenden Vertragswerken entfalten werden. Dieser Zustand könnte über die Veröffentlichung der Urteilsgründe hinaus bis zum Vorliegen der von den Ministerien angekündigten Gesetzesänderung andauern.

Da die unter den bestehenden Rahmenverträgen abgeschlossenen Transaktionen jedoch ein ganz wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten des Finanzmarktes sind und auch der kurzfristige Abschluss anderslautender Verträge nicht möglich ist, geht die Bundesanstalt davon aus, dass durch die Ungewissheit über die Tragweite des Urteilsspruchs eine erhebliche Störung der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes eintreten kann, die zu deutlichen Marktverwerfungen führen würde.

b) Unsicherheit über mögliche europarechtliche Konsequenzen

Neben der Unsicherheit über den Anwendungsbereich des Urteils bestehen erhebliche Verunsicherungen hinsichtlich der Anwendung von Vorschriften im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben im Umfeld der vertraglichen Nettingvereinbarungen.

aa) Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten

Eine möglicherweise bestehende Unwirksamkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen würde eventuell im Widerspruch zu Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten (ABl. L 168 vom 27.06.2002, S. 43) („Finanzsicherheitenrichtlinie“) stehen. Danach ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, sicherzustellen, dass eine auf vertraglicher Vereinbarung basierende Aufrechnung infolge Beendigung („Close-out Netting“) auch dann vereinbarungsgemäß wirksam werden kann, wenn gegenüber einer Vertragspartei ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Die Finanzsicherheitenrichtlinie ist durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und andere Gesetze vom 5. April 2004 in das deutsche Recht übernommen worden. Ausweislich der Gesetzesbegründung war es dabei die Absicht des Gesetzgebers insbesondere dem Gebot des Art. 7 der Finanzsicherheitenrichtlinie nachzukommen und zumindest die für die Sicherstellung der Aufrechnung infolge Beendigung notwendigen Änderungen des Insolvenzrechts vorzunehmen (s. BT-Drucksache 15/1853 vom 29.10.2003, S. 12). In diesem Zusammenhang ist bereits sehr deutlich auf die möglicherweise erheblichen Folgen für den deutschen Finanzplatz, die mit einer restriktiven Umsetzung der Finanzsicherheitenrichtlinie verbunden wäre, hingewiesen worden.

bb) Art. 25 der Richtlinie 2001/24/EG des europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten

Des Weiteren könnte die Unwirksamkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen im Widerspruch zum Umsetzungserfordernis des Art. 25 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. L 125, 5.5.2001, S. 15) stehen. Sinn dieser Vorschrift ist die Aufrechterhaltung der Integrität der geregelten Märkte sowie die Vorhersehbarkeit des auf Nettingvereinbarungen anwendbaren Rechts (s. BT-Drucksache 15/16 vom 25.10.2002, S. 19 f., Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts). Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich die Absicht, das vertragliche Netting nicht zuletzt wegen dessen bankaufsichtsrechtlicher Auswirkungen zu schützen. Eine Unwirksamkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen hätte nicht einschätzbare Folgen für den deutschen Finanzplatz.

cc) Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen

Ebenso könnte eine Unwirksamkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen nicht mit den auf der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 190 ff.) („BRRD“) basierenden Vorschriften über die Anwendung des Instruments der Gläubigerbeteiligung in Bezug auf Verbindlichkeiten aus Derivaten nach § 93 des Sanierungs- und Abwicklungsgesetzes („SAG“) vereinbar sein. § 93 SAG sieht vor, dass die Gläubigerbeteiligung im Sinne des § 90 SAGd.h. die Herabschreibung berücksichtigungsfähiger Verbindlichkeiten oder deren Umwandlung in Eigenkapitalinstrumente – bei Verbindlichkeiten aus Derivaten und sonstigen Finanzleistungen im Sinne des § 104 Abs. 2 InsO nur nach vorheriger oder gleichzeitiger Kündigung der Geschäfte erfolgen darf und dass die Abwicklungsbehörde oder ein von ihr beauftragter unabhängiger Sachverständiger den Wert der beendeten Geschäfte in Übereinstimmung mit den in § 93 Abs. 4 SAG genannten Methoden und Grundsätzen bestimmt. Wesentliche Elemente dieser Bewertung werden zukünftig in der auf Art. 49 Abs. 4 BRRD basierenden delegierten Verordnung der Europäischen Kommission zur Bewertung von Derivaten definiert werden (s. EBA Final Report vom 17.12.2015, EBA/RTS/2015/11). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Abwicklungsbehörde nach § 146 SAG unverzüglich nach Durchführung der Gläubigerbeteiligung feststellen muss, ob und in welchem Umfang die Vertragspartner der Bank im Vergleich zu der Situation, die sich bei der Eröffnung und Durchführung eines Insolvenzverfahrens eingestellt hätte, benachteiligt worden sind (No creditor-worse-off-Grundsatz). Die in diesem Zusammenhang vorzunehmende hypothetische Bewertung würde – bei einer Unwirksamkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen – berücksichtigen müssen, dass die Forderung wegen Nichterfüllung nach § 104 Abs. 3 InsO auf Basis der Markt- oder Börsenpreise am zweiten Werktag nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu ermitteln ist. Führt die hypothetische Bewertung nach § 146 SAG zu dem Ergebnis dass der Gläubiger aufgrund der Kündigung und Umwandlung oder Abschreibung seiner Forderung einen Verlust erlitten hat, weil z. B. die für Zwecke der Gläubigerbeteiligung vorgenommene Bewertung nach § 93 SAG auf Basis anderer Preise vorgenommen wurde, steht ihm nach § 147 SAG ein Ausgleichsanspruch gegen den Restrukturierungsfonds zu. Das Fehlen von Nettingvereinbarungen, die dem Wortlaut der vertraglichen Vereinbarungen entsprechen, verhindert daher nicht nur, dass die für die Abwicklung von Derivaten maßgeblichen europäischen Bewertungsstandards zur Anwendung kommen, er begründet auch die Gefahr, dass der Restrukturierungsfonds häufiger in Anspruch genommen werden muss als dies vom europäischen Gesetzgeber beabsichtigt war.

dd) Art. 296 Abs. 2 Buchstabe (a) der CRR

Von besonderer Bedeutung ist, dass eine Unwirksamkeit der vertraglichen Nettingvereinbarungen einen unauflösbaren Konflikt mit den Vorschriften der CRR über die bankaufsichtliche Anerkennung vertraglicher Nettingvereinbarungen begründen könnte. Art. 296 Abs. 2 Buchstabe (a) CRR beschränkt die Anerkennung auf Nettingvereinbarungen, die die Beendigung, Abrechnung und Saldierung der in sie einbezogenen Einzelabschlüsse auf den Zeitpunkt des Ausfalls der Vertragspartei vorverlegt. Das Urteil des BGH führt im Ergebnis zu einem Fortbestehen des Nettings gemäß 104 Abs. 2 InsO, aber zu einer zeitlichen Verschiebung auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung. Art. 178 CCR der den Begriff „Ausfall“ für die Zwecke der CRR definiert, stellt klar, dass bereits die Stellung eines Antrages auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens als ein den Ausfall des Schuldners anzeigendes Ereignis zu werten ist. Eine vertragliche Nettingvereinbarung, die ein Close-out-Netting erst für den Zeitpunkt der – ggf. Monate später erfolgenden – Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorsieht, wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Führt die Vorverlegung des Zeitpunkts auf den Ausfall jedoch dazu, dass die vertragliche Vereinbarung unwirksam ist, fehlt es an der nach Art. 296 Abs. 2 Buchstabe (b) CRR durch Rechtsgutachten zu belegende Wirksamkeit der vertraglichen Nettingvereinbarung.

ee) Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Tates vom 4. Juli 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister

Ein weiterer Konflikt im Falle des ersatzlosen Wegfalls vertraglicher Nettingvereinbarungen könnte sich im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister (ABl. L 201 vom 27.7.2012, S. 1 ff) („EMIR“) ergeben. Art. 11 Abs. 3 EMIR verpflichtet finanzielle Gegenparteien wie Kreditinstitute und Wertpapierfirmen dazu Risikomanagementverfahren einzuführen, die unter anderem einen rechtzeitigen und angemessenen Austausch von Sicherheiten vorschreiben. Die Einzelheiten der Besicherungspflicht werden zukünftig in der auf Art. 11 Abs. 15 EMIR basierenden delegierten Verordnung der Europäischen Kommission für technische Regulierungsstandards zu Risikomanagementverfahren für nicht über eine CCP abgewickelte OTC-Derivatekontrakte definiert werden („RTS Besicherung“) (s. EBA Final Draft Regulatory Technical Standards der Europäischen Aufsichtsbehörden vom 8.3.2016, ESAs 2016 23). Der Entwurf von Art. 11 und 23 Abs. 4 Buchstabe (a) der RTS Besicherung geht davon aus, dass die rechtliche Durchsetzbarkeit vertraglicher Nettingvereinbarungen Grundvoraussetzung für die Verpflichtung zur Stellung von Sicherheiten ist. Gelangt die clearingpflichtige Partei im Rahmen der nach Art. 32 Abs. 2 RTS Besicherung gebotenen Prüfung zur Auffassung, dass die vertragliche Nettingvereinbarung nicht mit der erforderlichen Sicherheit durchsetzbar ist, entfällt die Pflicht zur Besicherung (zumindest im Rahmen der durch Art. 11 RTS Besicherung bestimmten Grenzen). Art. 11 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 der RTS Besicherung sieht diese Ausnahme allerdings nur für Drittstaaten vor. Damit würde eine eventuelle Beurteilung von Nettingvereinbarungen unter deutschem Recht als nicht durchsetzbar möglicherweise nicht zu einer Befreiung von der Besicherungspflicht führen. Eine solche Einschätzung könnte wegen Art. 17 RTS Besicherung zu einem erheblich erhöhten Besicherungsbedarf führen. Der für die Berechnung von anfänglichen Sicherheiten („initial margins“) maßgebliche Art. 17 RTS Besicherung definiert die Nachschuss-Risikoperiode („margin period of risk“), d.h. den Zeitraum zwischen a) dem letzten Austausch von Sicherheiten und b) dem Zeitpunkt, zu dem die im Netting-Satz einbezogenen Geschäfte glattgestellt sind und das aus dem Wegfall der beendeten Geschäfte resultierende Marktrisiko erneut abgesichert ist. Würde eine Unwirksamkeit der vertraglichen Nettingvereinbarung dazu führen, dass ein Institut die Wiedereindeckung nach § 104 Abs. 3 InsO erst zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vornehmen kann, dann könnte aufgrund der Verlängerung der Nachschuss-Risikoperiode eine deutlich erhöhte Sicherheitenanforderung die Folge sein.

ff) Zusammenfassung

Um Unsicherheiten zu begegnen, die sich aus der fehlenden Bewertungsmöglichkeit des Urteilsspruchs des Bundesgerichtshofs ergeben, hat die Bundesanstalt die vorstehende Allgemeinverfügung erlassen, um klarzustellen, dass das Netting unter den bestehenden Rahmenverträgen, die in den Anwendungsbereich dieser Verfügung fallen, auch bis auf weiteres gemäß dem Wortlaut der vertraglichen Vereinbarungen zu erfolgen hat.

c) Mögliche Erschütterung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte und Konsequenzen für die Finanzmarktstabilität

Die unter a) dargestellte Unsicherheit bezüglich der Reichweite des Urteilsspruchs des Bundesgerichtshofs und die unter b) dargestellte offene Fragestellungen hinsichtlich der Anwendung von Vorschriften im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben im Umfeld der vertraglichen Nettingvereinbarungen können zu einer erheblichen Verunsicherung der Finanzplatzakteure führen.

Dies könnte dazu führen, dass zumindest vorübergehend, eventuell und wahrscheinlich sogar für einen längeren Zeitraum Marktteilnehmer vom Abschluss von Transaktionen unter den bestehenden zahlreichen Rahmenverträgen zurückschrecken werden. Insbesondere die Unsicherheit bezüglich möglicher weitergehende Kapitalunterlegungsanforderungen oder Nachschusspflichten könnte dazu führen, dass Marktteilnehmer keine diesbezüglichen Transaktionen bis auf weiteres mehr abschließen werden und eventuell sogar bestehende Geschäfte im Rahmen bestehender rechtlicher Möglichkeiten vorzeitig beenden bzw. schließen werden. Diese Verunsicherung wird dabei voraussichtlich alle Transaktionen betreffen, die unter Verträgen abgeschlossen werden, die deutschem Insolvenzrecht unterliegen könnten. Die Frage, welche Verträge deutschem Insolvenzrecht unterliegen, lässt sich dabei im Einzelfall ebenfalls nicht immer einfach feststellen, was die Verunsicherung noch erhöhen dürfte.

Die Transaktionen unter den bestehenden Rahmenverträgen sind dabei ein wichtiger Bestandteil der Aktivitäten im Finanzmarkt und sind für viele Akteure nicht nur wesentliche geschäftliche Aktivitäten, sondern dienen auch der Absicherung von Risiken. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass insbesondere deutsche Unternehmen und Institute, bei denen die Anwendung des deutschen Insolvenzrechts in vielen Fällen im Falle einer Insolvenz zur Anwendung kommen würde, nicht mehr als Vertragspartner ausländischer Finanzmarktakteure in Betracht gezogen würden. Eine solche Folge hätte jedoch im Hinblick auf die Risikoabsicherung aber auch auf die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten deutscher Institute und deutscher Unternehmen erhebliche Konsequenzen und könnte auch die deutsche Realwirtschaft, jedenfalls jedoch den deutschen und darüber hinaus den internationalen Kapitalmarkt betreffen. Wenn deutsche Unternehmen nicht oder nur noch im eingeschränkten Umfang als Vertragspartner solcher Transaktionen ausgewählt würden, würden wesentliche und wichtige Marktteilnehmer fehlen und damit die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.

Eine besondere Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte liegt darin, dass die Transaktionen unter den Rahmenverträgen von den Instituten und Unternehmen laufend und in hoher Frequenz abgeschlossen werden. Ein abrupter Stillstand dieser Aktivitäten aufgrund der beschriebenen Rechtsunsicherheit hätte derzeit nicht abschätzbare Konsequenzen für die Liquidität der Märkte und letztlich auch für die Infrastrukturen der Finanzmärkte. Ein solcher abrupter Stillstand der Marktaktivitäten könnte zu erheblichen Verwerfungen an den Kapitalmärkten und damit zu einer signifikanten Störung der Finanzmarktstabilität führen.

d) Missstand

Die Bundesanstalt sieht im dem vorstehend beschriebenen möglichen Szenario aufgrund der Verunsicherung im Hinblick auf die mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs verbundenen Konsequenzen einen Missstand im Sinne des § 4a Abs. 1 Satz 1 WpHG. § 4a Abs. 1 Satz 1 WpHG soll gerade Situationen regeln, in denen durch das fehlende Vertrauen der Marktteilnehmer ineinander die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes erschüttert wird.

§ 4a Abs. 1 WpHG erlaubt der Bundesanstalt dabei ausdrücklich auch ein präventives Vorgehen insoweit, dass der Missstand noch nicht eingetreten sein muss.

Die vorstehend genannte Verunsicherung könnte das Marktgeschehen im Finanzmarkt insgesamt beeinträchtigen, so dass die Bundesanstalt als Marktaufseher gemäß § 4a WpHG tätig wird.

Ausdrücklich hat der Gesetzgeber mit der in § 4a Abs. 1 WpHG normierten Anordnungsbefugnis die Erwartung verbunden, dass die Bundesanstalt in Fällen der Verunsicherung Ruhe in die Finanzmärkte bringen kann, um Marktstörungen und Marktversagen abzuwenden. Dieser Zielsetzung dient die vorstehende Allgemeinverfügung.

e) Verhältnismäßigkeit der Allgemeinverfügung

aa) Geeignetheit

Die durch die Allgemeinverfügung getroffene Maßnahme ist geeignet die mit der Verkündung des Urteilsspruchs des Bundesgerichtshofs verbundenen Unsicherheiten und die damit beschriebenen eventuelle Erschütterung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärke zu beseitigen. Sie stellt für eine Übergangszeit, spätestens bis zum Inkrafttreten der angestrebten gesetzlichen Regelung, sicher, dass die von Instituten verwendeten vertraglichen Nettingvereinbarungen im Falle der Insolvenz einer der beiden Parteien auch dann rechtlich wirksam und durchsetzbar bleiben, wenn sie von den in § 104 InsO getroffenen Bestimmungen abweichen. Insbesondere muss es unschädlich sein, dass die Nettingvereinbarungen für Zwecke der Beendigung von Einzelabschlüssen und deren Bewertung an einen früheren Zeitpunkt als den der Eröffnung des Insolvenzverfahrens anknüpfen.

bb) Erforderlichkeit

Die Allgemeinverfügung ist auch erforderlich, da kein milderes Mittel ersichtlich ist, welches in gleichem Maße geeignet ist, den beschriebenen möglichen Konsequenzen einer Erschütterung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte zu begegnen. Nur eine Klarstellung, dass das Netting unter den bestehenden Rahmenverträgen im Anwendungsbereich dieser Verfügung weiterhin gemäß dem vertraglichen Wortlaut erfolgen kann, stellt sicher, dass die Marktakteure das bisherige Marktgeschehen fortsetzen und es nicht durch ein abruptes durch Verunsicherung entstehendes Innehalten zur Marktverwerfungen kommen wird.

cc) Angemessenheit

Die Allgemeinverfügung ist darüber hinaus auch angemessen. Es sind bislang keine Marktverwerfungen im Hinblick auf die seit langer Zeit bestehenden vertraglichen Nettingvereinbarungen festzustellen. Der mit der Allgemeinverfügung begründete Fortbestand der Nettingmöglichkeit gemäß dem Wortlaut der bestehenden Rahmenverträge stellt Rechtssicherheit her. Er ist keine Veränderung des bestehenden Status Quo und stellt darüber hinaus den Einklang mit den europarechtlichen und internationalen Marktgepflogenheiten her.

Lediglich in den Einzelfällen, in denen es vor Erlass dieser Verfügung bereits titulierte Ansprüche bzw. Feststellungen gab oder Verfahren anhängig waren, wird insbesondere das Vertrauen des Rechtschutzsuchenden auf den Bestand etwa eines erlangten Titels insoweit geschützt, weil dieses dem Rechtsfrieden dient und von diesen Einzelfällen - gerade wegen der Wirkungen der vorliegenden Allgemeinverfügung - in Zukunft keine Störung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte mehr zu befürchten ist.

Die Allgemeinverfügung ist damit geeignet, erforderlich und angemessen.

3. Widerrufsmöglichkeit

Die Widerrufsmöglichkeit (§ 49 Abs. 2 VwVfG) trägt dem Umstand Rechnung, dass der Anordnungsgrund vor Ablauf der Befristung z. B. durch das Inkrafttreten einer entsprechenden Änderung der Insolvenzordnung und der damit verbundenen Wiederherstellung der Rechtssicherheit entfallen könnte.

4. Öffentliche Bekanntmachung

Die Bekanntmachung der Allgemeinverfügung erfolgt am 9. Juni 2016 durch öffentlichen Aushang und auf der Internetseite der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Bekanntgabe der Allgemeinverfügung erfolgt jedenfalls in öffentlicher Form, weil die Bekanntgabe an alle Beteiligten untunlich ist. Die Bundesanstalt verfügt über keine Kenntnisse, welche Institute und Unternehmen Verträge mit entsprechenden Nettingvereinbarungen abgeschlossen haben und Geschäftsaktivitäten im Rahmen der Verträge entwickelt haben, die in den Anwendungsbereich dieser Verfügung fallen. Die Bundesanstalt kann den Kreis der Betroffenen nicht aus dem Kreis ihrer Aufsichtstätigkeit ableiten, denn der Abschluss von Rahmenverträgen mit entsprechenden Nettingvereinbarungen, die deutschen insolvenzrechtlichen Vorgaben unterstehen, ist nicht genehmigungs- oder anzeigepflichtig.

5. Benehmen mit der Deutschen Bundesbank

Der Erlass der Allgemeinverfügung erfolgt im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank (§ 4a Abs. 1 Satz 1 WpHG).

6. Keine Anhörung

Von der Anhörung der von der Allgemeinverfügung betroffenen Adressaten wird nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 und 4 VwVfG abgesehen, da einer möglichen krisenhaften Zuspitzung der das Finanzsystem gefährdenden Umstände schnellstmöglich begegnet werden muss. Das unmittelbare Inkrafttreten der Allgemeinverfügung ist aufgrund von Gefahr in Verzug im öffentlichen Interesse zur Sicherstellung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte notwendig.

7. Sofortige Vollziehbarkeit

Es wird darauf hingewiesen, dass Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben (§ 4a Abs. 4 Satz 4 WpHG).

Rechtsbehelfsbelehrung

Gegen diese Allgemeinverfügung kann innerhalb eines Monats nach ihrer Bekanntgabe Widerspruch bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht in Bonn oder Frankfurt am Main erhoben werden.

Frankfurt am 9. Juni 2016

Felix Hufeld

Kontakt:Oli­ver Struck
Leiter der Pressestelle

Telefon: +49 (0) 228 4108-2410
E-Mail: oliver.struck@bafin.de

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