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Erscheinung:10.11.2016 | Thema Rückstellungen Anforderungen an Kapitalmarktmodelle für die Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II

Auslegungsentscheidung zu Anforderungen zur Bewertung von Kapitalmarktmodellen

Einleitung

Nach § 75 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) sind in der Solvabilitätsübersicht für sämtliche Versicherungsverpflichtungen gegenüber Versicherungsnehmern und Anspruchsberechtigten versicherungstechnische (vt.) Rückstellungen zu bilden. Diese setzen sich aus dem besten Schätzwert und der Risikomarge zusammen.

Bei der Projektion der künftigen Zahlungsströme zur Berechnung des besten Schätzwerts sind alle ein- und ausgehenden Zahlungsströme zu berücksichtigen, die zur Abrechnung der Versicherungsverbindlichkeiten während ihrer Laufzeit benötigt werden. Die künftigen Zahlungsströme, die in solchen Projektionen betrachtet werden, können u.a. von der zukünftigen Entwicklung der Finanzmärkte abhängig sein. Das ist insbesondere bei Verträgen mit Zinsgarantien, die eine Beteiligung des Versicherungsnehmers an zukünftigen Überschüssen aus Kapitalerträgen vorsehen, sowie fondsgebundenen Versicherungen der Fall.

Hat die zukünftige Entwicklung der Finanzmärkte wesentlichen Einfluss auf die Höhe der vt. Rückstellungen, so wird es in der Regel erforderlich sein, dass das Unternehmen eine Projektion künftiger Finanzmarktparameter anhand eines Modells vornimmt. Im Rahmen dieser Auslegungsentscheidung werden solche Modelle als Kapitalmarktmodelle bezeichnet. Die Kapitalmarktmodelle beruhen auf mathematischen Modellen und zugrunde liegenden Annahmen zur zukünftigen Entwicklung verschiedener Finanzparameter. Wichtiger Bestandteil ist die Projektion zukünftiger risikoloser Marktzinsen, die anhand sogenannter Zinsmodelle vorgenommen wird.

Die Projektionen in den Kapitalmarktmodellen beruhen in der Regel auf einer Monte-Carlo Simulation stochastischer Kapitalmarktszenarien. Hierfür werden sogenannte ökonomische Szenariogeneratoren (Economic Scenario Generator - ESG) verwendet. Diese erzeugen unter Zuhilfenahme von Zufallsgeneratoren die benötigten Kapitalmarktszenarien auf Grundlage der getroffenen mathematischen Modellierung und Kalibrierung.

Die vorliegende Auslegungsentscheidung reflektiert die Anforderungen, die im Rahmen der Bewertung vt. Rückstellungen mit der Verwendung von Kapitalmarktmodellen einhergehen. Dabei werden insbesondere Anforderungen in Bezug auf die verwendeten Zinsmodelle sowie allgemeine Anforderungen an die Angemessenheit der Kapitalmarktmodelle und der erzeugten Szenarien aufgegriffen. Die im Folgenden angesprochenen Punkte sind nicht als abschließend zu betrachten, sondern fokussieren auf die im gegenwärtigen Zinsumfeld als vorrangig zu betrachtenden Aspekte.

Anforderungen an Kapitalmarktmodelle für die Bewertung vt. Rückstellungen

Bei Verwendung eines Kapitalmarktmodells zur Bewertung vt. Rückstellungen ist dieses ein Teil der Gesamtmethodik zur Rückstellungsbewertung und unterliegt damit den allgemeinen Anforderungen, die in dieser Hinsicht in §§ 74 – 88 VAG und Titel I Kapitel III der delegierten Verordnung (EU) 2015/35 (DVO) kodifiziert sind.

Spezifische Anforderungen an die Verwendung von Kapitalmarktmodellen ergeben sich insbesondere aus Art. 22 Abs. 3 DVO. Nach Art. 22 Abs. 3 S. 1 DVO müssen die Annahmen, die das Unternehmen in Bezug auf künftige Finanzmarktparameter oder -szenarien trifft, angemessen sein und mit dem in Art. 75 der Solvency-II-Richtlinie 2009/138/EG (vgl. § 74 VAG) verankerten Prinzip der marktkonsistenten Bewertung für Vermögenswerte und Verbindlichkeiten unter Solvency II in Einklang stehen (vgl. auch Art. 76 Abs. 3 der Richtlinie bzw. § 75 VAG).
Nach Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. a bis c muss das verwendete Kapitalmarktmodell ferner folgende Anforderungen erfüllen:

a) es ermittelt für die Vermögenswerte Preise, die mit den an Finanzmärkten erzielten Preisen in Einklang stehen;
b) es geht davon aus, dass keine Arbitragemöglichkeit besteht;
c) die Kalibrierung der Parameter und Szenarien steht mit der zur Berechnung des besten Schätzwerts im Sinne von Art. 77 Abs. 2 der Richtlinie 2009/138/EG verwendeten maßgeblichen risikolosen Zinskurve in Einklang.

Bei der Verwendung von Kapitalmarktmodellen sind darüber hinaus die Leitlinien 53 bis 60 der EIOPA-Leitlinien zur Bewertung von vt. Rückstellungen (EIOPA-BoS-14/166 DE) zu berücksichtigen. Diese Leitlinien behandeln:

  • die Wahl der Methode zur Bewertung finanzieller Garantien und vertraglicher Optionen und der hierbei zu berücksichtigenden Aspekte (Leitlinie 53)
  • die Beurteilung der Angemessenheit der Bewertung finanzieller Garantien und vertraglicher Optionen, falls diese anhand einer geschlossenen Formel oder mittels eines stochastischen Ansatzes vorgenommen wird, und der andernfalls zu wählende Ansatz (Leitlinie 54)
  • die Dokumentation der verwendeten Kapitalmarktmodelle unter Berücksichtigung der Gründe für deren Wahl, der Beurteilung der Datenqualität sowie der Kalibrierung und die aus der Kalibrierung resultierenden Parameter (Leitlinie 55)
  • die Sicherstellung eines angemessenen Verständnisses des Kapitalmarktmodells und seiner Kalibrierung auch im Falle einer ausgelagerten Verwendung eines ESG (Leitlinie 56)
  • die Sicherstellung, dass die Kalibrierung des Kapitalmarktmodells auf Basis von Daten aus tiefen, liquiden und transparenten Finanzmärkten erfolgt (Leitlinie 57)
  • den Nachweis, dass die Wahl der zur Kalibrierung genutzten Finanzinstrumente angesichts der Merkmale der Versicherungsverpflichtungen (d. h. eingebetteter Optionen oder finanzieller Garantien) sachdienlich ist (Leitlinie 57)
  • die Durchführung von Tests zur Überprüfung der Genauigkeit, der Solidität und der Marktkonformität des verwendeten ESG (Leitlinie 58)
  • die Überprüfung der in den ESG verwendeten Zufallszahlengeneratoren (Leitlinie 59)
  • die Einrichtung adäquater Verfahren zur Sicherstellung einer dauerhaften Eignung des ESG für die Bewertung vt. Rückstellungen (Leitlinie 60)

i. Anforderung aus Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. a DVO

Bei der Verwendung eines Kapitalmarktmodells hat das Unternehmen zunächst eine Auswahl darüber zu treffen, für welche Klassen von Vermögenswerten mit dem Modell Kapitalmarktszenarien erzeugt werden sollen und welche Finanzinstrumente hierfür als Referenzinstrumente für die Kalibrierung des Kapitalmarktmodelles heranzuziehen sind. Die Kalibrierung des Kapitalmarktmodells anhand der betrachteten Referenzinstrumente hat den Vorgaben des Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. a DVO zu genügen. Danach müssen die Preise, die das Kapitalmarktmodell für die betrachteten Vermögenswerte ermittelt, mit den an den Finanzmärkten erzielten Preisen in Einklang stehen.

Auswahl der Referenzinstrumente

Versicherungsunternehmen sollten nachweisen können, dass die Wahl der zur Kalibrierung genutzten Referenzinstrumente angesichts der Merkmale der Versicherungs- oder Rückversicherungsverpflichtungen sachdienlich ist (vgl. Leitlinie 57). Für Verpflichtungen, welche wesentliche Finanzgarantien oder Versicherungsnehmeroptionen enthalten, erfordert dies die Auswahl geeigneter Optionen, die ähnliche Charakteristika wie die Verpflichtungen haben.

Für die Kalibrierung des Zinsmodells werden typischerweise Swaption-Kontrakte herangezogen. Die Wahl der Swaptions, die in die Kalibrierung eingehen, ist sorgfältig zu treffen, da diese Auswahl einen sehr hohen Einfluss auf die Höhe der vt. Rückstellungen haben kann. Bei der Auswahl der Swaptions sind die Merkmale der vt. Verpflichtungen, insbesondere Laufzeit, Höhe und Art der eingebetteten Optionen und Garantien, zu berücksichtigen.

Kalibrierung des Kapitalmarktmodells anhand der gewählten Referenzinstrumente

Die Kalibrierung des Kapitalmarktmodells anhand der ausgewählten Referenzinstrumente hat in Einklang mit der unter Solvency II vorgesehenen marktkonsistenten Bewertung für Vermögenswerte und Verbindlichkeiten zu erfolgen. Für die Kalibrierung sind daher grundsätzlich die Marktpreise für die betrachteten Finanzinstrumente zum Bewertungsstichtag zu berücksichtigen.

Die Abhängigkeit der vt. Rückstellungen von der zukünftigen Entwicklung der Finanzmärkte ergibt sich insbesondere auch aus dem Kapitalanlagebestand des Unternehmens, dessen Erträge Einfluss auf die Höhe der Verbindlichkeiten u.a. durch die zukünftige Überschussbeteiligung haben. Bei der Kalibrierung des Kapitalmarktmodells ist daher auch zu berücksichtigen, inwiefern diese im Einklang steht mit den Marktpreisen und Charakteristika des Kapitalanlagebestandes des Unternehmens.

Ein wesentlicher Bestandteil der Kalibrierung des Zinsmodells innerhalb des Kapitalmarktmodells besteht in der Festlegung der im Modell vorgesehenen Volatilitätsparameter. Nach Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. c ist sicherzustellen, dass diese Festlegung in Einklang mit der maßgeblichen risikolosen Zinskurve erfolgt.

Die maßgebliche risikolose Zinskurve für den Euro basiert im liquiden Bereich zunächst auf Swap-Zinssätzen, sieht jedoch eine Anpassung in Hinblick auf verbleibende Kreditrisiken vor. Weitere Anpassungen der maßgeblichen risikolosen Zinskurve können sich beispielsweise aus der Verwendung der Volatilitätsanpassung oder der Übergangsmaßnahme zu risikofreien Zinssätzen nach § 351 VAG ergeben (siehe hierzu auch Ausführungen unter iii).

Aufgrund der Abweichungen der maßgeblichen risikolosen Zinskurve von den Swap-Zinssätzen wäre es in der Regel nicht sachgerecht, für die Kalibrierung des Zinsmodells unmittelbar den Marktpreis der betrachteten Swaptions heranzuziehen. Eine mögliche Vorgehensweise besteht darin, dass Preisinformationen in Bezug auf die betrachteten Swaptions auf die maßgebliche risikolose Zinskurve übertragen werden.

Begründung der vorgenommenen Auswahl und Kalibrierung

Das Unternehmen sollte in der Lage sein, die Auswahl der Referenzinstrumente und die Vorgehensweise zur Kalibrierung des Kapitalmarktmodells zu begründen. Hierfür getroffene Annahmen sind gemäß Art. 22 Abs. 1 S. 1 Bst. d DVO im Zeitverlauf einheitlich zu nutzen. Die Auswahl der Referenzinstrumente, welche für die Kalibrierung herangezogen werden, sollte dementsprechend im Zeitverlauf einheitlich sein. Werden Änderungen vorgenommen, so sollten diese wohl begründet sein.

ii. Anforderung aus Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. b DVO

Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. b DVO erfordert, dass das Kapitalmarktmodell auf der Annahme beruht, dass keine Arbitragemöglichkeiten bestehen. Als Grundannahme für eine risikoneutrale Bewertung bedeutet dies, dass der Erwartungswert der diskontierten Preisprozesse für die in den Szenarien abgebildeten Vermögenswerte ihrem Wert entspricht. Hierbei wird auch von Martingaleigenschaft gesprochen.

Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen sollten in der Lage sein nachzuweisen, dass die erzeugten Kapitalmarktszenarien mit dieser Annahme konsistent sind (siehe hierzu auch Leitlinie 58). Dazu zählt mindestens eine Überprüfung der Martingaleigenschaft für jede einzelne Asset-Klasse (in der Fachliteratur als „1=1-Test“ bezeichnet) sowie in Hinblick auf ausgewählte Anlagestrategien, die verschiedene Asset-Klassen umfassen (in der Fachliteratur als Reinvestitions- oder 1=1=1-Test bezeichnet).

iii. Anforderung aus Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. c DVO

Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. c DVO erfordert, dass die Kalibrierung der Parameter und Szenarien mit der zur Berechnung des besten Schätzwerts im Sinne von Art. 77 Abs. 2 der Richtlinie 2009/138/EG verwendeten maßgeblichen risikolosen Zinskurve in Einklang steht.

Unter der maßgeblichen risikolosen Zinskurve ist dabei die nach § 77 Abs. 1 VAG für die Berechnung des besten Schätzwerts zu verwendende maßgebliche risikofreie Zinskurve zu verstehen. Diese bezieht eine vom Unternehmen ggf. angewandte Volatilitäts- oder Matchinganpassung mit ein. Dies gilt ebenfalls für eine Anpassung der maßgeblichen risikolosen Zinskurve, die sich aus der Anwendung der Übergangsmaßnahme zu risikofreien Zinssätzen nach § 351 VAG ergibt.

Das Zinsmodell sollte daher so parametrisiert werden, dass die mit dem Kapitalmarktmodell wahrscheinlichkeitsgewichtet berechneten Preise von Nullkouponanleihen den erwarteten Werten aus der maßgeblichen risikolosen Zinskurve entsprechen. Zusammen mit der Vorschrift der Arbitragefreiheit (Art. 22 Abs. 3 S. 2 Bst. b DVO) ergibt sich, dass die Zinskurve im Modell zu Beginn der Projektion der maßgeblichen risikolosen Zinskurve entspricht. Dies gilt auch dann, wenn die Zinskurve negative Zinsen für einzelne Laufzeiten aufweist.

Die mittlere (erwartete) Rendite aller im Modell abbildbaren Anlagestrategien muss daher mit der maßgeblichen risikolosen Zinskurve in Einklang stehen. Dies gilt für alle modellierten Klassen von Vermögenswerten, beispielsweise auch in Hinblick auf die unterstellte mittlere Aktienrendite im Rahmen der Modellierung von Aktienpreisen.

iv. Überprüfung der Angemessenheit des Kapitalmarktmodells und der erzeugten Szenarien

Ein Kapitalmarktmodell für die Bewertung der vt. Rückstellungen ist auf Angemessenheit im Sinne von Art. 56 DVO zu prüfen. Gemäß Art. 56 Abs. 3 DVO werden hierbei alle Risiken, die sich auf den Betrag, den Zeitpunkt oder den Wert der Zahlungszu- und -abflüsse auswirken, berücksichtigt.

Wenn vom Unternehmen nachträgliche Anpassungen an den vom Kapitalmarktmodell erzeugten Kapitalmarktszenarien vorgenommen wurden, so ist sicherzustellen, dass die resultierenden für die Bewertung der vt. Rückstellungen verwendeten Kapitalmarktszenarien alle rechtlichen Anforderungen erfüllen.

Um die Angemessenheit der Kapitalmarktmodelle und die Eignung des erzeugten Szenariensatzes für die Bewertung der vt. Rückstellungen zu überprüfen, wird es im Allgemeinen erforderlich sein, über die oben bereits angeführten Tests hinaus weitere Untersuchungen in Hinblick auf die Güte der Szenarien und die Stabilität der Ergebnisse vorzunehmen. Dabei sollte zumindest überprüft werden, ob die Anzahl der Szenarien ausreichend ist (Analyse des Monte-Carlo-Fehlers) und ob sich die Berechnungsergebnisse gegenüber Änderungen der Inputdaten, die nicht mit den zugrundeliegenden Risiken der zu bewertenden versicherungstechnischen Verpflichtungen in Zusammenhang stehen, als stabil erweisen. Hierunter sind beispielsweise auch die verwendeten (Pseudo-)Zufallszahlen zu zählen.

Gemäß Leitlinie 58 sollten Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen auch die Sensitivität der Bewertung einiger typischer Verbindlichkeiten gegenüber einer Parameteränderung im Rahmen der Kalibrierung testen.
Unternehmen sollten die inhärenten Annahmen der Modelle und deren Grenzen kennen, um sicherzustellen, dass das Kapitalmarktmodell dauerhaft für die Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen geeignet ist (siehe hierzu auch Leitlinie 60). Dies bedeutet insbesondere, dass die Modelle in einem angemessenen Spektrum von Kapitalmärkten für die Bewertung der vt. Rückstellungen geeignet sein sollten. Dazu zählen insbesondere Szenarien, die im Rahmen der Berechnung der regulatorischen Kapitalanforderungen oder im Rahmen der Erstellung des ORSA betrachtet werden.

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