Erscheinung:03.11.2014 Lebensversicherung: Policenmodell in Teilen europarechtswidrig
Versicherungsnehmer können unter bestimmten Voraussetzungen Widerspruch gegen Lebensversicherungsverträge einlegen, die nach dem so genannten Policenmodell1 abgeschlossen wurden. Diese Voraussetzungen hat der Bundesgerichtshof (BGH) in zwei Urteilen (Az. IV ZR 76/11 und IV ZR 73/13) konkretisiert.
Hintergrund ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Dezember 2013 (Az. C-209/12), wonach die Widerspruchsregelung des § 5a Absatz 2 Satz 4 Versicherungsvertragsgesetz alter Fassung (VVG a.F.) europarechtswidrig ist. Diese Regelung sei nicht vereinbar mit der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung.
Im konkreten Fall hatte der Versicherer den Versicherungsnehmer nicht ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt. Nachdem der Vertrag bereits jahrelang in Kraft war, hatte der Versicherungsnehmer den Widerspruch erklärt und verlangt, dass der Versicherer alle Beiträge nebst Zinsen zurückzahlen solle.
BGH-Entscheidungen
Auf Grundlage dieser EuGH-Entscheidung urteilte der BGH am 7. Mai 2014, dass das Widerspruchsrecht eines Versicherungsnehmers grundsätzlich fortbesteht, wenn er nicht ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt worden ist und/oder die Versicherungsbedingungen oder eine Verbraucherinformation nicht erhalten hat. Übe er das fortbestehende Widerspruchsrecht wirksam aus, müsse der Versicherer den Vertrag bereicherungsrechtlich rückabwickeln. (Was das für den Versicherungsnehmer bedeutet, ist unter „Rechtsfolgen“ beschrieben.)
Am 16. Juli 2014 entschied der BGH außerdem, dass ein ordnungsgemäß belehrter Versicherungsnehmer keinen Anspruch darauf hat, dass sein Lebensversicherungsvertrag nach jahrelanger Vertragsdurchführung bereicherungsrechtlich rückabgewickelt wird.
Im zugrunde liegenden Fall waren dem Versicherungsnehmer zusammen mit dem Versicherungsschein zudem die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) sowie die Verbraucherinformation zugegangen. Er hatte es jedoch versäumt, dem Vertragsschluss gemäß § 5a Absatz 1 Satz 1 und 2 VVG a.F. innerhalb von 30 Tagen zu widersprechen. Der BGH urteilte, dass diese Widerspruchslösung nicht zu beanstanden sei, vor allem deshalb, weil die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung keine Vorgaben zum Zustandekommen des Versicherungsvertrags enthielten, sondern dies dem nationalen Recht überließen. Der Versicherungsnehmer verhalte sich treuwidrig, wenn er sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit berufe. Die Frage, ob das Policenmodell mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar sei, sei in diesem Fall nicht entscheidungserheblich.
Betroffene Verträge
Beide Entscheidungen des BGH beziehen sich auf Lebensversicherungen, die zwischen dem 29. Juli 1994 und dem 31. Dezember 2007 nach dem Policenmodell und auf Grundlage von AVB abgeschlossen wurden, die die Versicherungsaufsicht nicht genehmigt hatte. Das Urteil vom Mai gilt ausdrücklich auch für Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung.
Für alle Versicherungsarten, die nicht unter die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung fallen, ist die Widerspruchsregelung des § 5a Absatz 2 Satz 4 VVG a.F. unverändert anwendbar.
Rechtsfolgen
Für den Versicherungsnehmer bedeutet das Urteil vom 7. Mai, dass er grundsätzlich ein unbefristetes Widerspruchsrecht hat, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen. Er hat einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung, wenn er den Vertrag wirksam widerruft. Der Versicherer muss ihm die gezahlten Prämien zuzüglich Nutzungszinsen zurückzahlen. Der erlangte Versicherungsschutz – laut BGH könnte dies etwa der Prämienanteil für das Versicherungsrisiko sein – ist hiervon abzuziehen. Der BGH führt explizit aus, dass sich der Versicherer nicht auf Verwirkung berufen kann.
Das Urteil vom 16. Juli gibt insbesondere Lebensversicherern Rechtssicherheit darüber, dass Versicherungsnehmer bei der beschriebenen Fallkonstellation kein „ewiges“ Widerspruchsrecht haben, daraus also keine Bereicherungsansprüche entstehen können.
Verbraucherbeschwerden
Immer wieder wenden sich Verbraucher aufgrund des BGH-Urteils vom Mai 2014 an die Beschwerdestelle der BaFin, nachdem sie den Widerspruch erklärt haben, und erheben Ansprüche gegenüber ihrem Versicherer.
In einem Fall stand die Frage im Raum, ob der Versicherer „in drucktechnisch deutlicher Form“ über das Widerspruchsrecht informiert hatte. Der BGH hatte in einer Entscheidung vom 28. Januar 2004 (IV ZR 58/03) näher ausgeführt, was diese Vorgabe in der Praxis bedeutet. Demnach ist unter anderem zu berücksichtigen, ob die Belehrung dem Kunden gesondert von den übrigen Vertragsunterlagen präsentiert wurde und ob sie sich wesentlich vom übrigen Text abhebt, etwa durch Fettdruck, eine andere Farbe, Schriftart oder -größe oder auch durch Einrücken oder Einrahmen. Im vorliegenden Fall hatte das Unternehmen diese Vorgaben aus Sicht der BaFin eingehalten.
Eine weitere Beschwerdeführerin hatte ihrem Vertrag nach jahrelanger Vertragsdurchführung widersprochen und sich darauf berufen, dass sie ein unbefristetes Widerspruchsrecht habe. Sie sei nicht über ihr Widerspruchsrecht belehrt worden. Der Versicherer, der gemäß § 5a Absatz 2 Satz 2 VVG a.F. beweispflichtig war, konnte jedoch nachweisen, dass der Beschwerdeführerin der Versicherungsschein zugegangen war: Im Rahmen einer Verpfändung hatte sie selbst der Hypothekenabteilung des Versicherers den Original-Versicherungsschein übergeben. Da die Widerspruchsbelehrung in drucktechnisch hervorgehobener Form Bestandteil des Versicherungsscheins war, lag eine ordnungsgemäße Belehrung der Beschwerdeführerin vor. In einem ähnlichen Fall bestritt ein Beschwerdeführer den Erhalt der Vertragsunterlagen, hatte sich jedoch in Schriftwechseln mit dem Versicherer mehrfach auf diese Unterlagen bezogen.
Bereits vor den Urteilen des BGH hatte sich ein Rechtsanwalt im Namen von neun Versicherungsnehmern eines Versicherers an die BaFin gewandt. Er hatte für seine Mandanten jeweils den Widerspruch nach § 5a VVG a.F., hilfsweise die Kündigung des Vertrages erklärt. Das Unternehmen weigerte sich zunächst, Prämien auszuzahlen. Es hielt den Widerspruch aufgrund der Regelung des § 5a Absatz 2 Satz 4 VVG a.F. für unwirksam. Auch die Kündigungen erkannte es nicht an, da diese „hilfsweise“ und damit unter einer Bedingung ausgesprochen worden seien, eine Kündigung jedoch ein bedingungsfeindliches Gestaltungsrecht sei. Nach dem Urteil des BGH vom 7. Mai 2014 legte das Unternehmen ergänzend dar, dass die Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss ordnungsgemäß belehrt worden seien und sämtliche Vertragsunterlagen erhalten hätten. Es stünde ihnen daher kein „ewiges“ Widerspruchsrecht zu. Unter Berücksichtigung des BGH-Urteils vom 16. Juli 2014 war diese Rechtsauffassung aufsichtsrechtlich nicht zu beanstanden. Im Laufe der Beschwerdebearbeitung durch die BaFin erkannte das Unternehmen die hilfsweise erklärten Kündigungen jedoch an und zahlte die Rückkaufswerte nebst Verzugszinsen aus.
Policenmodell
Von 1994 bis Ende 2007 galt im deutschen Versicherungsvertragsrecht die Vorschrift des § 5a Versicherungsvertragsgesetz alter Fassung (VVG a.F.), die Vertragsschlüsse nach dem Policenmodell regelte. Hiernach konnte ein Vertrag auch dann als abgeschlossen gelten, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer den Versicherungsschein, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) oder eine Verbraucherinformation nicht bei der Antragstellung übergab, sondern erst später übersandte. Der Versicherungsnehmer hatte ein Widerspruchsrecht von 14 Tagen; bei Lebensversicherungen betrug die Widerspruchsfrist 30 Tage. Sie begann jedoch erst, wenn dem Versicherungsnehmer die Vertragsunterlagen vollständig vorlagen und er bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich und „in drucktechnisch deutlicher Form“ über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden war. Abweichend davon erlosch das Widerspruchsrecht gemäß § 5a Absatz 2 Satz 4 VVG a.F. ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie.
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