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Erscheinung:15.08.2016 | Thema Rückstellungen, Solvabilität Schadenrückstellung: Neue Bewertungsgrundlagen unter Solvency II

Für die Schaden- und Unfallversicherungsunternehmen ist der handelsrechtliche Posten der Schadenrückstellung von zentraler Bedeutung. Er ist gemäß § 341e Absatz 1 Handelsgesetzbuch (HGB) so zu bemessen, dass sichergestellt ist, dass der Versicherer seine Verpflichtungen dauerhaft erfüllen kann (besonderes Vorsichtsprinzip).

Definition:Schadenrückstellung

Die Schadenrückstellung gehört zu den versicherungstechnischen Rückstellungen und deckt bereits eingetretene Versicherungsfälle ab, die der Versicherer jedoch noch nicht abgewickelt hat. In der handelsrechtlichen Bilanz von Schaden- und Unfallversicherern bildet sie den wichtigsten Passivposten. Nach ihrer Höhe bestimmt sich auch das Vermögen, welches Versicherer vorhalten müssen, um die Ansprüche der Versicherungsnehmer zu sichern (Sicherungsvermögen).

Hieran ändert sich aufgrund des § 294 Absatz 4 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) auch unter dem neuen Aufsichtssystem Solvency II nichts. In der Solvabilitätsübersicht (Solvency II Balance Sheet) wird allerdings der beste Schätzwert, der Best Estimate, für die Verpflichtungen aus dem Nicht-Lebensversicherungsgeschäft ausgewiesen. Dieser setzt sich aus den Best Estimates für die Schaden- und die neu eingeführte Prämienrückstellung zusammen, die jeweils gesondert zu berechnen sind. Dies stellt die Schadenrückstellung – wie auch die nunmehr vorzunehmende Berechnung einer Risikomarge – abweichend vom handelsrechtlichen Ansatz auf neue Bewertungsgrundlagen.

Der vorliegende Beitrag stellt die Schadenrückstellung nach HGB und den unter Solvency II für die Schadenrückstellung zu berechnenden Best Estimate konzeptionell gegenüber.

Unterschiede zur Bilanzierung nach dem HGB

Der Best Estimate der Schadenrückstellung umfasst die wahrscheinlichkeitsgewichtete Schätzung der zukünftigen Zahlungsströme für eine homogene Risikogruppe (HRG) bis zum Vertragsende. Implizite oder explizite Sicherheitszuschläge werden beim Ansatz ökonomischer Werte nicht berücksichtigt. Die Bewertung muss marktkonsistent sein. Dies hat zur Konsequenz, dass die geschätzten Schadenzahlungsströme unter Berücksichtigung des Zeitwerts des Geldes mit der risikofreien Zinsstrukturkurve zu diskontieren sind (Barwertsicht). Folglich wird der Best Estimate als Gegenwartswert in der Regel unterhalb des HGB-Werts liegen

Das Prinzip der Einzelbewertung, das bei der Schadenregulierung nach dem HGB für die Reservierung eingetretener und gemeldeter Schäden zum Erfüllungswert zu beachten ist, gilt weiterhin. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die zahlungsbezogenen Daten der bekannten Einzelschäden aus der HGB-Welt in die Schätzung des Best Estimates für eine homogene Risikogruppe einfließen. Bilanztechnisch vereinfacht ausgedrückt werden die additiven Einzelschadenreserven nebst den pauschal bewerteten Teilen der handelsrechtlichen Schadenrückstellung, also den IBNR- und ULAE-Reserven für unbekannte Spätschäden und indirekte Regulierungskosten (Incurred but not Reported und Unallocated Loss Adjustment Expenses), durch den Best Estimate für die gesamte Schadenrückstellung ersetzt (siehe Grafik 1).

In der HGB-Sicht mündet die auf mathematisch-statistischen Verfahren basierende IBNR-Spätschadenpauschale zusammen mit den Einzelreserven für bekannte Spätschäden in die Teil-Schadenrückstellung für Spätschäden. Die Teil-Schadenrückstellung für Schadenregulierungskosten (Loss Adjustment Expenses – LAE) besteht aus dem pauschal bewerteten Block indirekter Regulierungskosten und den Regulierungskosten, die einzelnen Schäden direkt zurechenbar sind (Allocated Loss Adjustment Expenses – ALAE).

Schadenrückstellung nach HGB und Solvency II

Grafik: Schadenrückstellung nach HGB und Solvency II Grafik: Schadenrückstellung nach HGB und Solvency II Schadenrückstellung nach HGB und Solvency II

Dem Best Estimate pro homogener Risikogruppe liegen sämtliche schadenbezogenen Zahlungsstromarten zugrunde, also Leistungen für Einzel- und Spätschäden, direkte und indirekte Kosten. Die Best Estimates werden für die unter Solvency II vordefinierten Lines of Business (LoB) berechnet. Diese unter-scheiden sich von den handelsrechtlichen Abgrenzungen nach Versicherungs-zweigen und Arten. Je nach Segmentierungstiefe sind einer LoB die Best Estimates mehrerer homogener Risikogruppen zuzuweisen (siehe Grafik 2). Unter Umständen kann es beispielsweise risikogerecht sein, für APH-Schäden (Asbestos, Pollution and Health Hazards), also Schäden wegen Asbestbelastung, Umweltverschmutzung und anderen Gesundheitsgefährdungen, aufgrund des sehr speziellen Abwicklungsverhaltens eine eigenständige homogene Risikogruppe einzurichten.

Zuweisungsrichtung

Grafik: Zuweisungsrichtung Grafik: Zuweisungsrichtung Quelle: BaFin Zuweisungsrichtung

Die Modellierung der Schadenrückstellung unter Solvency II muss risikogerecht erfolgen, auch im Hinblick auf die Ermittlung der Best Estimates für die Renten-Deckungsrückstellung. Diese sind in der Solvabilitätsübersicht abweichend zum HGB-Ausweis jedoch den Verpflichtungen aus dem Lebensversicherungsgeschäft zuzuordnen.

Auf einen Blick:Wichtige Abkürzungen: Teil-Rückstellungen

  • IBNR: Incurred but not Reported. Unbekannte Spätschäden des Geschäftsjahres und der Vorjahre, die bereits entstanden, dem Versicherer aber noch nicht gemeldet worden sind. Die handelsrechtliche Teil-Schadenrückstellung für Spätschäden setzt sich aus den Einzelreserven für bekannte Spätschäden und den Schadenreserven für die pauschal bewerteten IBNR zusammen.
  • ULAE: Unallocated Loss Adjustment Expenses. Rückstellungen für Regulierungskosten, die sich nicht einzelnen Schadenfällen zuordnen lassen (indirekte Regulierungskosten).
  • ALAE: Allocated Loss Adjustment Expenses. Rückstellungen für Regulierungs-kosten, die sich einzelnen Schäden direkt zuordnen lassen.
  • LAE: Loss Adjustment Expenses. Teil-Schadenrückstellung für Schadenregulierungskosten. Summe aus ULAE und ALAE.

Statuarischer Blickwinkel

Die Bewertungskonzeption unter Solvency II hat zur Folge, dass hinsichtlich der qualitativen und methodischen Herangehensweise bei der Prüfung der Schadenrückstellung ein veränderter Blickwinkel einzunehmen ist. Dieser unterscheidet sich fundamental von demjenigen der jahresabschlussorientierten Betrachtung von Struktur, Entwicklung und Abwicklung einzelner Teil-Schadenrückstellungen mit Reservierungsrichtlinien für Einzelschäden.

Eine wesentliche Prüfaufgabe unter HGB-Bedingungen kann darin bestehen, die Abwicklung der Eingangs- beziehungsweise Ursprungsschadenreserven zu beobachten und mithilfe einfacher mathematischer Schätzverfahren und Standardwerkzeugen wie dem Chain-Ladder-Verfahren darauf zu achten, ob die vorhandenen Schadenreserven ausreichend bemessen sind, um die Schäden vollständig bezahlen zu können.

Die empirischen Schadendreiecke werden ihrem Abwicklungsmuster (Pattern) entsprechend zu einem Viereck fortentwickelt. Hieraus wird der Rückstellungsbedarf in Form von Punktschätzungen abgeleitet. Offenbaren die Punktschätzungen Unterdeckungsrisiken, ist in einem weiteren Schritt zu untersuchen, in welchem Umfang Nachreservierungen erforderlich sind. Als Vergleichsmaßstab dient die aktuelle Ist-Schadenrückstellung in der jeweils untersuchten Dimension. Diese kann sich je nach Prüfgegenstand entweder auf Einzelschadenreserven bestimmter Versicherungszweige und -arten oder bestimmter Segmente, bestimmte Schadenjahrgänge oder auf eine IBNR-Methodik für die Spätschadenrückstellung beziehen.

Blickwinkel unter Solvency-II-Bedingungen

Dem Best Estimate der Schadenrückstellung liegt eine verstärkt prospektive Sichtweise zugrunde, bei der die Versicherer mit teils stochastischen Reservierungsverfahren die Schadenentwicklung unter expliziter Zuweisung auf die einzelnen Folgejahre bis zum Endschadenstand schätzen (ökonomische Ultimate-Sicht). Dies setzt genaue Prognosen über Umfang und Zahlungszeitpunkte zukünftiger Zahlungsströme voraus (Cashflow-Projektion). Erste Anhaltspunkte für die Beurteilung solcher Berechnungen sowie die Robustheit und Prognosegenauigkeit des Best Estimates können sich aus der unternehmensinternen Validierung ergeben, bei der die Unternehmen mindestens einmal jährlich Daten, Annahmen, Methoden und Höhe der Best Estimates zu analysieren haben. Beurteilungsmaßstab ist die homogene Risikogruppe. Instrumente dieser unternehmensinternen Qualitätssicherung sind unter anderem das Backtesting und Sensitivitätsanalysen.

Die Prognose des erwartungstreuen Reservebedarfs bringt es mit sich, dass unterschiedliche Rechenwerkzeuge (Reserving Tools) und Reservierungsverfahren angewendet werden, mitunter auch Mischvarianten, oder dass Verfahren kombiniert werden.

Tendenzen hin zu einer verstärkt prospektiven Sichtweise lassen sich auch unter HGB-Bedingungen feststellen, beispielsweise bei der Analyse und Bewertung pauschaler Spätschadenrückstellungen. So lässt sich seit einigen Jahren beobachten, dass die aus getrennten Durchschnittsbetrachtungen für das Mengen- und Wertgerüst der IBNR, also den Stückzahlen und Aufwendungen, hergeleiteten Mengen- und Aufwandssätze verstärkt durch aktuarielle Methoden unter Berücksichtigung der Erfahrungswerte abgelöst werden. Mitunter werden aktuarielle Herangehensweisen auch miteinander kombiniert, indem beispielsweise mittels aktuarieller Software Verteilungen über die künftige Entwicklung der Abwicklungsfaktoren generiert und getestet werden. Die Verteilungen wiederum finden Eingang in aktuarielle Schätzverfahren, mit deren Hilfe die Spätschadenentwicklung in die Zukunft projiziert wird.

Zu erwarten ist auch, dass die ULAE bei der Teil-Schadenrückstellung für Regulierungskosten verstärkt nach aktuariellen Methoden berechnet beziehungsweise ULAE-Faktoren aktuariell hergeleitet werden.

Bewertungsstetigkeit

Aufgrund der Methodenvielfalt und der sich verstärkenden Modellsicht bei der Bewertung ist es mit Blick auf den Best Estimate der Schadenrückstellung umso wichtiger, dass der bilanzielle Grundsatz der Bewertungsstetigkeit stärker in den Fokus rückt.

Für die Berechnung ist eine stetige Aufbereitung und Verwendung der Daten zu gewährleisten (prozessuale Sicht). Dreiecke und Datensets der Größen, die unter Berücksichtigung von Mengen-, Wert- und Verteilungsgerüsten abgeleitet werden, sollten nachvollziehbar und begründet sein (materielle Sicht). Die Daten müssen vollständig, exakt und angemessen sein. Hierzu existieren umfangreiche aufsichtsrechtliche Anforderungen, die möglichst ausschließen sollen, dass eine nicht angemessene Datenbasis Schätzfehler nach sich zieht, die sich wiederum auf die Reservequalität oder die Güte der Reservebemessung auswirken. Die Verwendung von Näherungswerten bei unzureichender Datengrundlage ist nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.

Da nicht vorgegeben ist, nach welcher mathematischen Methode der Best Estimate konkret zu berechnen ist, lässt sich die marktkonsistente Rückstellungsbewertung als offener Bewertungsprozess beschreiben. Umso bedeutsamer ist es, dass die Bewertungsannahmen, Methoden und Berechnungswege zu Art und Umfang der homogenen Risikogruppe passen und angemessen sind. Für die Beurteilung, ob die der Berechnung des Best Estimates zugrunde gelegten Annahmen als realistisch eingestuft werden können, gelten ebenfalls aufsichtsrechtliche Anforderungen, nach denen die Annahmen mehrere Bedingungen erfüllen müssen.

Neuer Erläuterungsbaustein

Die Prüfungsberichtsverordnung (PrüfbV) wird derzeit an die veränderte Bilanzierung der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten angepasst. Die Novelle wird die Jahresabschlussprüfer voraussichtlich dazu verpflichten, in einem eigenständigen Berichtsteil auf die Solvabilitätsübersicht einzugehen.

Während ein Schwerpunkt bei der jahresabschlussorientierten Berichterstattung darauf liegt, auf die einzelnen Teil-Schadenrückstellungen und den Einsatz von Pauschalmethoden einzugehen, lässt die Novellierung erwarten, dass sich die Berichterstattung unter Solvency II weiter in Richtung Datengerüst, Berechnungsmethoden und Validierung der Rückstellungsberechnung mit Feststellungen zum aktuariellen Gesamtbewertungsmodell verlagern wird.

Plausibilität der Rückstellungshöhe

Die Aufsicht kann von den Schaden- und Unfallversicherern verlangen nachzuweisen, dass die Höhe der Schadenrückstellung in der Solvabilitätsübersicht angemessen ist (§ 88 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 75 VAG). Unabhängig davon, ob es sich um eine Solvabilitätsübersicht oder eine HGB-Bilanz handelt, hat sie gemäß § 294 Absatz 4 VAG auf die Bildung einer ausreichenden Schadenrückstellung zu achten.

Weitere Erkenntnisse über ein etwaiges Schlechter- oder Besserabwicklungspotenzial können sich daraus ergeben, dass Ausgangs- beziehungsweise Abwicklungsdreiecke gleichermaßen gegen den Best Estimate und den korrespondierenden statuarischen Wert verprobt werden. Für eine qualitative Gegenüberstellung kann es hilfreich sein, den Diskontierungseffekt zu eliminieren, indem eine um den Zeitwert des Geldes bereinigte Best-Estimate-Reserve verwendet wird.

Unterjährige Schadenrückstellung

Nicht gänzlich neu ist die quartalsweise Berichtspflicht gegenüber der Aufsicht über die Schadenrückstellung. Sie galt bisher für die Entwicklung der Rückstellungen für einzeln bewertete Geschäfts- und Vorjahresschäden.

Unter Solvency II wird nun auch der Best Estimate des Quartals zu berichten sein. Die Versicherer haben darauf zu achten, dass die unterjährigen Schätzungen und Fortschreibungen den Bewertungsgrundsätzen von Solvency II entsprechen und sich innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens bewegen. Mögliche Ursachen für unterjährige Schwankungen oder Ausreißer sind dann gegebenenfalls unter den begleitenden Aspekten der quartalsweisen Kalkulation, der Fortschreibungsannahmen, des Bewertungsumfelds oder anderer maßgeblicher Einflussfaktoren zu hinterfragen.

Benchmark-System

Um die Aussagekraft des Best Estimates besser beurteilen zu können, werden neue Branchenkennzahlen als Vergleichswerte (Benchmarks) benötigt, beispielsweise der Überdeckungsgrad der HGB-Schadenrückstellung im Verhältnis zum Best Estimate. Eine ergänzende Information könnte der Risikozuschlagsanteil liefern, das Verhältnis der Risikomarge zum Best Estimate. Bestehen auffällige Abweichungen zu den Benchmark-Werten, wird es auf die Erklärbarkeit der Differenzen ankommen. Aus weitergehenden Auswertungen und Abweichungsanalysen je nach Abgrenzung der homogenen Risikogruppen und der Zuordnung zu einer Line of Business lassen sich möglicherweise branchentypische Reservierungs- und Abwicklungsmuster identifizieren und analysieren.

Der Abstand vom marktbasierten Barwert – bestehend aus dem Best Estimate und der Risikomarge – zum HGB-Erfüllungswert zeigt zudem das Ausmaß des Effekts an, der sich aus der Umbewertung und Diskontierung der Schadenrückstellung auf Unternehmens- und Branchenebene einstellt.

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