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Erscheinung:23.06.2022 § 132 VAG – ein wichtiges Frühwarninstrument für Unternehmen und Aufsicht (ausführlicher Fachartikel)

(BaFinJournal) Eine Verschlechterung ihrer finanziellen Lage müssen Versicherer und Pensionsfonds der BaFin unverzüglich anzeigen. So verlangt es § 132 Versicherungsaufsichtsgesetz. Wie setzen die Unternehmen diese Norm um? Eine Branchenabfrage der BaFin zeigt positive Entwicklungen. Doch es gibt auch Handlungsbedarf.

Governance-Aspekte des Frühwarnsystems

§ 132 ist als Frühwarnsystem konzipiert. Die Warnung erfolgt durch eine Anzeige an die BaFin. Um der Anzeigepflicht überhaupt nachkommen zu können, müssen die Unternehmen über geeignete Verfahren verfügen, mit denen sie eine Verschlechterung ihrer finanziellen Lage feststellen können. Diese Selbstverständlichkeit ergibt sich bereits aus der Anforderung einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation und eines effektiven Risikomanagements – sowie aus der Klarstellung in § 132 Absatz 1 VAG.

Weil es bei § 132 VAG im Kern um Fragen einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation und eines effektiven Risikomanagements geht, gelten die diesbezüglichen gesetzlichen und die von der BaFin in den drei Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation (MaGo) für die jeweilige Adressatengruppe formulierten Anforderungen: die MaGo von Versicherungsunternehmen, die MaGo von kleinen Versicherungsunternehmen sowie die MaGo für Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge (EbAV). Diese Anforderungen sind daher auch für § 132 VAG relevant und zu beachten.

Welche Verantwortlichkeiten bestehen im Unternehmen?

Als Teil des Risikomanagements hat die Geschäftsleitung die Gesamtverantwortung für die Umsetzung des § 132 VAG. Auf Ebene der Schlüsselfunktionen fällt § 132 VAG in den Verantwortungsbereich der Unabhängigen Risikocontrollingfunktion (URCF). Die Geschäftsleitung berücksichtigt bei der Ausgestaltung des § 132 VAG neben den Erkenntnissen der URCF auch die Erkenntnisse anderer Schlüsselfunktionen, des Verantwortlichen Aktuars (je nachdem, ob das Unternehmen einen Verantwortlichen Aktuar oder die jeweilige Schlüsselfunktion einrichten muss) und die Erkenntnisse weiterer relevanter Organisationseinheiten im Unternehmen.

Wie oft müssen Unternehmen die Prozesse überprüfen?

Die Einrichtung geeigneter Verfahren zur Umsetzung des § 132 VAG unterfällt der Risikomanagementleitlinie im Sinne des § 23 Absatz 3 Satz 2 VAG. Relevante Aspekte in Bezug auf § 132 VAG sind insbesondere die Festlegung hiermit zusammenhängender Prozesse und die unternehmenseigene Festlegung anzeigepflichtiger Sachverhalte. Diese Punkte müssen in der Risikomanagementleitlinie festgehalten werden. Solvency-II-Versicherungsunternehmen und kleine Versicherungsunternehmen (§ 211 Absatz 1 VAG), die nach Solvency I beaufsichtigt werden, müssen diese Aspekte gemäß § 23 Absatz 3 Satz 3 VAG mindestens einmal jährlich überprüfen. Bei EbAV genügt eine Überprüfung mindestens alle drei Jahre (§ 234 Absatz 3 Satz 2 VAG). Auch außerhalb dieser Turnusse müssen bei wesentlichen Änderungen die relevanten Aspekte, insbesondere die Verfahren und anzeigepflichtigen Sachverhalte zur Umsetzung des § 132 VAG, angepasst werden (§ 23 Absatz 3 Satz 4 VAG).

Den Unternehmen steht es frei, § 132 VAG in einem separaten Leitliniendokument zu behandeln oder die Leitlinie nach § 132 VAG und weitere Risikomanagementleitlinien in einem Dokument zusammenzufassen.

Gibt es auch Erleichterungen in der Umsetzung?

Das Proportionalitätsprinzip findet Anwendung. Das heißt: Die aufgesetzten Verfahren müssen der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken des Unternehmens angemessen sein (§ 296 Absatz 1 Satz 1 VAG). Für EbAV sind zusätzliche Proportionalitätskriterien zu beachten (§ 296 Abs. 1 Satz 2 VAG sowie § 234c Absatz 1 Satz 2 VAG).

Gibt es weitere Berichtspflichten neben denen, an die BaFin zu berichten?

Kommt es zu einer Anzeige an die Aufsicht gemäß § 132 Absatz 2 VAG, so erwartet die BaFin, dass das Unternehmen auch seinen Aufsichtsrat sowie – jedenfalls bei Solvency-II-Gruppen – das oberste Gruppenunternehmen darüber informiert.

Verhältnis zum ORSA, zur Eigenen Risikobeurteilung und zu vorausschauenden Sanierungsplänen

Kein Ersatz für die einzurichtenden Verfahren und die Anzeige nach § 132 VAG sind

  • der ORSA, also die eigene Solvenz- und Risikobeurteilung (§ 27 VAG) von Solvency-II-Versicherungsunternehmen und der aufsichtliche ORSA-Bericht,
  • die Eigene Risikobeurteilung (ERB; § 234d VAG) von EbAV und der ERB-Bericht gegenüber der Aufsichtsbehörde sowie
  • vorausschauende Sanierungspläne (§ 26 Absatz 1 Sätze 4 und 5 VAG), die von ausgewählten nationalen wie internationalen Gruppen erstellt werden.

Es gibt vielmehr wesentliche Unterschiede zwischen den oben genannten Regelungen und den Vorgaben des § 132 VAG, wie die Infokästen zeigen. Angesichts dieser Unterschiede ist zwar nicht ausgeschlossen, dass Unternehmen für § 132 VAG teilweise auf Prozesse oder Indikatoren aus dem ORSA, der ERB oder dem vorausschauenden Sanierungsplan zurückgreifen. Ein solcher Rückgriff wird sich aber nur eingeschränkt anbieten.

Unterschiede zwischen ORSA und § 132 VAG

Zwischen ORSA und § 132 VAG gibt es wesentliche Unterschiede, wie die folgenden Beispiele zeigen:

ORSA § 132 VAG
Der ORSA ist primär ein Instrument der Unternehmenssteuerung.Das Frühwarnsystem dient auch der frühzeitigen Information der Aufsicht über Verschlechterungen der finanziellen Lage.
Beim ORSA ist grundsätzlich nur eine Solvency-II-Sicht maßgeblich, auch über den Gesamtsolvabilitätsbedarf (siehe Auslegungsentscheidung ORSA Randnummern 93 bis 97). Handelsrechtliche Aspekte spielen grundsätzlich nur insoweit eine Rolle, wie sie mittelbar Rückwirkungen auf die Solvency-II-Sicht haben.Die anzeigepflichtigen Sachverhalte nach § 132 Absatz 2 VAG sollen gerade auch Kriterien mit Bezug zur Rechnungslegung nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) einschließlich Liquidität einbeziehen (siehe weiter unten in diesem Artikel sowie den Fachartikel „Erkennen Versicherer ihre Risiken frühzeitig“ aus dem BaFinJournal 12/2019).
ORSA-pflichtig sind nur Solvency-II-Versicherungsunternehmen und –Gruppen.§ 132 VAG gilt darüber hinaus insbesondere auch für kleine Versicherungsunternehmen (§ 211 VAG) und EbAV (§§ 232, 236 VAG).
Der ORSA ist mindestens einmal jährlich sowie ad hoc bei wesentlichen Änderungen des Risikoprofils vorzulegen. Über den Ad-hoc-ORSA werden also relative Veränderungen erfasst; bei § 132 VAG dominieren demgegenüber absolute Kennzahlen und Kriterien. Ferner muss eine über einen Ad-hoc-ORSA festgestellte wesentliche Veränderung des Risikoprofils nicht notwendigerweise auch eine Gefährdung der Erfüllbarkeit der Verpflichtungen oder der Zahlungsfähigkeit im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG implizieren. Unverzüglich anzeigepflichtig sind Verschlechterungen der finanziellen Lage, die die Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus Versicherungen oder die Zahlungsfähigkeit des Versicherungsunternehmens gefährden könnten. Dieses Gefährdungsniveau muss bei rein relativen negativen Veränderungen (z.B. aktuelle Solvenzkapitalanforderung (Solvency Capital Requirement – SCR) - Bedeckungsquote minus x Prozent oder minus x Prozentpunkte) nicht erreicht sein. Deshalb sind Auslöser für Anzeigen nach § 132 VAG grundsätzlich Kennzahlen und Kriterien (z.B. SCR-Bedeckungsquote kleiner x Prozent). Kennzahlen und Kriterien, die eine relative Veränderung ausdrücken, spielen nur ergänzend eine Rolle (z.B. Verlust von y Prozent der Eigenmittel mit Tier-1-Qualität, wenn die SCR-Bedeckung bereits unter x Prozent liegt).

Unterschiede zwischen ERB und § 132 VAG

Auch bei ERB und § 132 VAG handelt es sich um unterschiedliche Regelungen, wie aus den Randnummern 43 und 88 des Rundschreibens 9/2020 (VA) hervorgeht. Das zeigen die Beispiele in der folgenden Tabelle:

§ 26 Absatz 1 Sätze 4, 5 VAG§ 132 VAG
Die ERB ist primär ein Instrument der Unternehmenssteuerung.Das Frühwarnsystem dient auch der frühzeitigen Information der Aufsicht über Verschlechterungen der finanziellen Lage.
ERB-pflichtig sind nur EbAV.§ 132 VAG gilt darüber hinaus insbesondere auch für Solvency-II-Versicherungsunternehmen und -Gruppen sowie kleine Versicherungsunternehmen (§ 211 VAG).
Die ERB ist mindestens alle drei Jahre sowie ad hoc bei wesentlichen Änderungen des Risikoprofils der EbAV oder im Risikoprofil eines von ihr betriebenen Altersvorsorgesystems vorzulegen. Über die Ad-hoc-ERB werden also relative Veränderungen erfasst; bei § 132 VAG dominieren demgegenüber absolute Kennzahlen und Kriterien. Des Weiteren muss eine über eine Ad-hoc-ERB festgestellte wesentliche Veränderung des Risikoprofils nicht notwendigerweise auch eine Gefährdung der Erfüllbarkeit der Verpflichtungen oder der Zahlungsfähigkeit im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG implizieren.

Relevante Auslöser von Anzeigen sind bei § 132 VAG grundsätzlich absolute Kennzahlen und Kriterien. Kennzahlen und Kriterien, die eine relative Veränderung ausdrücken, spielen nur eine ergänzende Rolle.

Ferner bezieht sich § 132 VAG nur auf die EbAV insgesamt, nicht auch – wie die ERB – auf einzelne von der EbAV betriebene Altersvorsorgesysteme.

Anders als beim ORSA von Solvency-II-Unternehmen sind bei der ERB gerade auch handelsrechtliche und Liquiditätsaspekte relevant (Rundschreiben 09/2020 (VA) Randnummern 73 ff., 85 ff.). Hier besteht also eine Gemeinsamkeit zwischen ERB und § 132 VAG.

Unterschiede zwischen vorausschauenden Sanierungsplänen und § 132 VAG

Zwischen vorausschauenden Sanierungsplänen und § 132 VAG gibt es ebenfalls wesentliche Unterschiede, wie beispielhaft aus der folgenden Übersicht hervorgeht:

§ 26 Absatz 1 Sätze 4, 5 VAG§ 132 VAG

Vorausschauende Sanierungspläne werden derzeit nur von ausgewählten nationalen wie internationalen Gruppen erstellt, die zum Beispiel nach folgenden Kriterien ausgesucht wurden:

  • Größe,
  • Risikoprofil,
  • Geschäftsmodell,
  • grenzüberschreitende Aktivitäten,
  • mangelnde Vernetzung und
  • Substituierbarkeit des Versicherungsunternehmens.
§ 132 VAG gilt für sämtliche Solvency-II-Versicherungsunternehmen und –gruppen, ferner insbesondere auch für kleine Versicherungsunternehmen (§ 211 VAG) und EbAV (§§ 232, 236 VAG).
Bei den Sanierungsplänen geht es im Kern darum, dass die Gruppen für sie relevante Stressszenarien durchspielen und als Reaktion auf die Ergebnisse dieser Szenarien Gegenmaßnahmen entwickeln und ausformulieren. Bei § 132 VAG müssen die Unternehmen anzeigepflichtige Sachverhalte definieren, die die Gefährdungsschwelle des § 132 Absatz 2 VAG erreichen, sowie auf dieser Grundlage erforderlichenfalls eine Anzeige an die BaFin vornehmen.

Welche Kennzahlen sind geeignet?

Wesentliche Kennzahlen sind die Bedeckung der Solvenzkapitalanforderung (Solvency Capital Requirement – SCR) beziehungsweise der Mindestkapitalanforderung (Minimum Capital Requirement – MCR), wenn das MCR größer als das SCR ist. Neben diesen kommen noch weitere Kennzahlen in Betracht – etwa Liquiditätskennzahlen, die Entwicklung des Jahresergebnisses oder des Eigenkapitals sowie die Bedeckung des Sicherungsvermögens.

Die Kennzahlen, Kriterien und Schwellenwerte, die das Unternehmen betrachtet, müssen – wie auch die oben genannten Verfahren zur Umsetzung des § 132 VAG – der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken des Unternehmens angemessen sein (§ 296 Absatz 1 Satz 1 VAG). Für EbAV gibt es zusätzliche Kriterien (§ 296 Abs. 1 Satz 2 VAG sowie § 234c Absatz 1 Satz 2 VAG).

Neben aktuellen Ist-Werten sollen Unternehmen regelmäßig auch Prognosewerte heranziehen, um ihre künftige finanzielle Lage zu beurteilen. Auch die Erkenntnisse aus unternehmensindividuellen Stresstests, Liquiditätsstresstests, Sensitivitäts- und Szenarioanalysen sind hierfür relevant.

Zusätzlich sollen die Unternehmen für die Einschätzung ihrer künftigen finanziellen Lage Kennzahlen aus dem handelsrechtlichen Abschluss berücksichtigen. Je nach Geschäftsmodell müssen sie unter Umständen auch Kennzahlen verwenden, die auf International Financial Reporting Standards (IFRS) basieren. In der Regel sollten Buchwerte und Marktwerte betrachtet werden.

Welche Kennzahlen sind speziell für Lebensversicherer (zur Klarstellung: inkl. Pensionskassen) zu betrachten?

Insbesondere für Lebensversicherer kommt es auf die Überschüsse nach dem HGB an, da diese die Überschussbeteiligung der Versicherungsnehmer und das Jahresergebnis bestimmen.

Die Kennzahlen von Lebensversicherern unterscheiden sich in der Regel von denen anderer Versicherungssparten. Lebensversicherer müssen bei den Kennzahlen in stärkerem Maße weiter gefasste Kriterien mit Bezug zur Rechnungslegung nach dem HGB einbeziehen. Aus diesen Kennzahlen geht etwa hervor, wie sich neben dem oben bereits genannten Jahresergebnis und Eigenkapital die Rückstellung für Beitragsrückerstattung oder der Rohüberschuss entwickeln.

Auswahl der relevanten Kennzahlen

Für die unterschiedlichen Gefährdungslagen (insbesondere im Hinblick auf die SCR-Bedeckungsquote sowie auf handelsrechtliche und Liquiditätskennzahlen) können neben Einzelkennzahlen auch mehrere Kennzahlen oder eine Kombination daraus definiert werden. Eine Kombination bietet sich insbesondere bei Gefährdungslagen in Bezug auf die Anforderungen des HGB an. Durch eine Kombination unterschiedlicher Kennzahlen kann ein Unternehmen sicherstellen, dass es eine Verschlechterung seiner finanziellen Lage in jeder relevanten Hinsicht zuverlässig rechtzeitig erkennt. Neben der Auswahl der Kennzahlen muss das Unternehmen festlegen, wie oft diese mindestens aktualisiert werden sollen (z.B. jährlich, quartalsweise, monatlich oder täglich, etwa bei Liquiditätskennzahlen).

Über diese Mindestfrequenz für eine Aktualisierung hinaus hängt die Häufigkeit und Genauigkeit der Überprüfung entscheidend davon ab, ob sich abzeichnet, dass in absehbarer Zeit eine Anzeigeschwelle voraussichtlich erreicht wird. In jedem Fall müssen die Kennzahlenwerte häufig genug neu berechnet werden, um – wie von § 132 VAG gefordert – eine meldepflichtige Anzeige einer Verschlechterung der finanziellen Lage unverzüglich vornehmen zu können. Hierzu gehört auch eine Ad-hoc-Aktualisierung, wenn Anzeichen vorliegen, dass eine Anzeigeschwelle erreicht sein könnte.

Ferner kann ein Vergleich im Zeitablauf zur Vorperiode durchgeführt werden. Auch ein Vergleich der Kennzahlen über mehrere Perioden hinweg kann sinnvoll sein – etwa eine Betrachtung über fünf Jahre. Ein Blick auf die Entwicklung der Kennzahlen im Zeitablauf hilft, mögliche negative Trends frühzeitig zu erkennen.

Als Schwellenwerte kommen überwiegend absolute Kennzahlen in Betracht (Beispiel.: SCR-Bedeckungsquote kleiner x %), die durch relative Kennzahlen ergänzt werden können (Beispiel: Verlust von y % der Eigenmittel mit Tier 1-Qualität, wenn die SCR-Bedeckung bereits unter x % liegt). Die Schwellenwerte sollten so gesetzt sein, dass eine Anzeige ausgelöst wird, wenn ohne die Einleitung von Gegenmaßnahmen die Erfüllbarkeit der Versicherungsverpflichtungen oder die Zahlungsfähigkeit gefährdet sein könnte.

Timing als wichtiges Kriterium für Kennzahlendefinition

Wie frühzeitig muss eine solche potentielle finanzielle Gefährdungslage erkannt werden, um noch geeignete Maßnahmen ergreifen zu können, damit die Gefährdung nicht eintritt? Das hängt vom Geschäftsmodell des betroffenen Unternehmens ab. Daraus ergibt sich, ob eine mittel- oder langfristige Betrachtung einzunehmen ist und wie viele Jahre diese Betrachtung für eine effektive Frühwarnfunktion umfassen muss. Die BaFin hält einen Betrachtungszeitraum von mindestens fünf Jahren für sinnvoll. Für Lebensversicherer mit einem großen Anteil an langfristigem Geschäft kann auch die Betrachtung eines deutlich längeren Zeitraumes angemessen sein.

Es ist zu erwarten, dass die kommende Insurance Recovery and Resolution Directive (IRRD) zu einem deutlich stärkeren Wechselspiel zwischen Sanierungsplänen und Artikel 136 der Solvency-II-Richtlinie führen wird, der § 132 VAG zugrunde liegt. Daher kann es sich für Unternehmen auf mittlere Sicht anbieten, sich bei der Bestimmung von Indikatoren im Rahmen von § 132 VAG an den Kennzahlen für vorausschauende Sanierungspläne zu orientieren – wenn auch voraussichtlich mit unterschiedlich definierten Schwellenwerten.

Der Entwurf der Europäischen Kommission zur Insurance Recovery and Resolution Directive

Die Europäische Kommission hat am 22. September 2021 ihren Entwurf für eine Richtlinie zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen (Insurance Recovery and Resolution Directive – IRRD) veröffentlicht.

Es zeichnet sich anhand Artikel 5 Absatz 9 des aktuellen IRRD-Entwurfs ab, dass für vorausschauende Sanierungspläne, die künftig nach der IRRD zu erstellen sein werden, langfristig Kennzahlen insbesondere zur Qualität des Kapitals, zu Liquidität, zur Ertragskraft, zu Marktbedingungen, makroökonomischen Bedingungen und operationellen Ereignissen zu prüfen sind.

Wirtschaftliches Umfeld sollte einbezogen werden

Alle betroffenen Unternehmen sollten Kennzahlen des wirtschaftlichen Umfelds berücksichtigen. Dazu gehören beispielsweise Kapitalmarkt- und Zinsentwicklung, aber auch Entwicklungen auf dem Gebiet der Versicherungstechnik – etwa im Hinblick auf Sterblichkeit und Invalidität. Um die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens besser einschätzen zu können, sollten die Unternehmen auch beobachten, ob sich die Unternehmenskennzahlen gegenläufig zu denen des wirtschaftlichen Umfeldes entwickeln.

Weitere Überlegungen: Welcher Schwellenwert bietet genügend Zeit?

Eine Anzeige muss bereits dann erfolgen, wenn die Erfüllbarkeit der Versicherungsverpflichtungen oder die Zahlungsfähigkeit gefährdet sein könnte. Deshalb müssen die unternehmensindividuellen Schwellenwerte für die Anzeige so gewählt werden, dass nach der Anzeige noch genügend Zeit für Gegenmaßnahmen durch das Unternehmen bleibt. Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang „genügend Zeit"? Dies hängt wiederum von der potentiellen Gefährdungslage ab und von der Frage, wie lange es dauert, bis die Gegenmaßnahmen wirken.

Die Schwellenwerte sollen einerseits nicht zu einer Anzeigeflut aufsichtlich irrelevanter Sachverhalte führen; sie dürfen andererseits aber auch nicht so gewählt sein, dass die Anzeigepflicht des § 132 Absatz 2 VAG übersprungen wird, also zum Beispiel direkt eine Anzeige nach § 134 Absatz 1 VAG wegen drohender Unterdeckung des SCR erfolgen muss.

Im Zweifel gilt jedoch: Schwellenwerte, die auf Kennzahlen oder Kriterien beruhen, die größeren Schwankungen unterworfen sind, sollten so gesetzt werden, dass eher ein Fehlalarm in Kauf genommen wird als ein Überspringen der Anzeigepflicht des § 132 Absatz 2 VAG.

Zusammenspiel mit Übergangsmaßnahmen, Volatilitätsanpassung, Risikominderungstechniken und Ergebnisabführungsverträgen

Aus Sicht der BaFin ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass Unternehmen auch Kennzahlen, Kriterien und Schwellenwerte unter Ausblendung der Wirkung

  • von Übergangsmaßnahmen für risikofreie Zinssätze oder versicherungstechnische Rückstellungen (§§ 351, 352 VAG),
  • einer Volatilitätsanpassung (§§ 82,83 VAG) oder
  • von passiven Rückversicherungslösungen und/oder anderen Risikominderungstechniken

definieren. Denn in der Regel gibt es diesbezügliche Sonderregelungen, wie die Voraussetzungen für die Anerkennung der Maßnahme oder besondere Monitoringpflichten unter Ausblendung der Wirkung der Maßnahme (z.B. § 353 VAG, § 27 Absatz 6 Satz 2 VAG).

Von den Unternehmen wird jedoch erwartet, dass sie auch die Relevanz der Maßnahmen betrachten und prüfen, ob auch Kennzahlen, Kriterien oder Schwellenwerte unter Ausblendung der Wirkung dieser Maßnahmen sinnvoll wären.

Gleiches gilt grundsätzlich auch für Ergebnisabführungsverträge, die das Unternehmen (weiterhin) als werthaltig einstuft (siehe BaFin-Journal April 2020). Die Wirkung eines als werthaltig eingestuften Ergebnisabführungsvertrages ist bei voraussichtlicher Ergebnisabführung zu berücksichtigen. Zudem kann sie auch bei erwartetem Verlustausgleich berücksichtigt werden.

Weitere Hinweise für Anwender von Übergangsmaßnahmen

Anwender von Solvency-II-Übergangsmaßnahmen für risikofreie Zinssätze oder versicherungstechnische Rückstellungen sollen ihre Solvenzsituation während des gesamten noch ausstehenden Übergangszeitraums betrachten. Dabei sollen sie insbesondere auf die Situation Anfang des Jahres 2032 abstellen, wenn die Übergangsmaßnahmen auslaufen.

Stellt ein Unternehmen, das ohne Übergangsmaßnahmen seine Kapitalanforderungen nicht einhalten könnte und deshalb unter intensivierter Aufsicht steht, fest, dass es weitere (bislang nicht im Maßnahmenplan genannte) Maßnahmen ergreifen muss, um seine Solvenz auch ohne Übergangsmaßnahmen bis 2032 sicherzustellen, so führt dies zu einer Anzeigepflicht nach § 132 Abs. 2 VAG.

Ein solcher Fall – in dem also zusätzliche Gegenmaßnahmen erforderlich sind – stellt potentiell auch eine wesentliche Änderung des Risikoprofils im Sinne der ORSA-Regelungen dar. Dies führt potentiell also auch zu einer Behandlungspflicht im ORSA oder zu einem Ad-hoc-ORSA.

Des Weiteren muss das Unternehmen im Falle zusätzlich erforderlicher Gegenmaßnahmen grundsätzlich auch den Maßnahmenplan aktualisieren. Die Aktualisierungsmöglichkeit des § 353 Absatz 2 Satz 2 VAG verdichtet sich in solchen Fällen – wegen zwischenzeitlicher Unzulänglichkeit der beschriebenen Maßnahmen –zu einer Aktualisierungspflicht.

Grundsätzlich gilt: Von Unternehmen, die unter intensivierter Aufsicht stehen, wird – wie von allen Unternehmen – erwartet, dass sie über wirksame Frühwarnsysteme verfügen und diese auch laufend auf ihre Tauglichkeit überprüfen. Die jeweilige Situation erfordert mitunter eine besondere Aufmerksamkeit der Geschäftsleitung und der beteiligten Schlüsselfunktionen.

Klare Definition für anzeigepflichtige Verschlechterungen

Die Aufsicht erwartet von den Unternehmen eine konkrete Definition für anzeigepflichtige Verschlechterungen der finanziellen Lage im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG. Es ist nicht ausreichend, wenn Unternehmen eine solche Verschlechterung im Wege einer nicht näher konkretisierten, rein qualitativen Gesamtabwägung bestimmen wollen.

Zulässig ist demgegenüber beispielsweise, wenn Unternehmen mehrere Faktoren in Form von Kennzahlen, Kriterien oder Schwellenwerten konkret definieren und, wenn einer dieser Faktoren einen kritischen Wert erreicht, in einen Überprüfungsprozess eintreten. In diesem Rahmen sollte das Unternehmen dann eine Gesamtschau auf Basis aller relevanten Faktoren (und nicht nur des betreffenden kritischen Faktors) vornehmen. Das Ergebnis einer solchen Gesamtschau kann dann durchaus sein, dass es für das Anschlagen einzelner Faktoren Erklärungen gibt, die nicht mit einer Gefährdungslage in Verbindung stehen, bei der eine Meldung an die BaFin erforderlich ist. Wichtig ist jedoch in diesem Fall: Das Unternehmen muss intern dokumentieren, warum es das Anschlagen des Faktors ignorieren konnte und keine Anzeige an die Aufsicht erfolgte.

Multiple Anzeigen nach § 132 Absatz 2 VAG

Aufgrund der jeweils unterschiedlichen Gefährdungslagen (insbesondere im Hinblick auf die SCR-Bedeckungsquote sowie auf handelsrechtliche und Liquiditätskennzahlen) müssen Unternehmen unterschiedliche Kennzahlen, Kriterien und Schwellenwerte definieren. Für jede Gefährdungslage ist zumindest eine Anzeigepflicht nach § 132 Absatz 2 VAG zu definieren. Wird eine Anzeigeschwelle berührt, muss das Unternehmen dies anzeigen.

Es ist ebenfalls möglich, dass es innerhalb ein und derselben Gefährdungslage nacheinander zu mehreren Anzeigen nach § 132 Absatz 2 VAG kommt. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn sich nach einer Anzeige gemäß § 132 VAG die Situation im Hinblick auf den Auslöser der Anzeige wieder wesentlich verbessert hatte, so dass die Aufsicht davon ausgehen durfte, dass diese Gefährdungslage nicht mehr bestand. Bei einer erneuten Verschlechterung der finanziellen Lage, die wiederum die Definition des unternehmensindividuellen Anzeigeauslösers erfüllt, muss das Unternehmen dann auch wieder eine Anzeige vornehmen.

Die Anzeige nach § 132 Absatz 2 VAG: Was erwartet die BaFin?

Eine Verschlechterung der finanziellen Lage im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG muss der Vorstand des Unternehmens der BaFin unverzüglich anzeigen. Unverzüglich heißt für die BaFin in diesem Kontext: innerhalb von sieben Arbeitstagen.

Bloße Anhaltspunkte für eine Verschlechterung im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG begründen zwar noch keine Anzeigepflicht. Das Unternehmen muss den Anhaltspunkten aber unverzüglich nachgehen und – je nach Sachlage – im Anschluss unverzüglich eine Anzeige machen. Ist hingegen bereits klar, dass auf jeden Fall eine Verschlechterung im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG vorliegt, muss unverzüglich eine Anzeige erfolgen – selbst, wenn das exakte Ausmaß der Verschlechterung noch unklar ist.

Hat das Unternehmen eine Verschlechterung im Sinne des § 132 Absatz 2 VAG festgestellt, muss eine Anzeige auch dann erfolgen, wenn das Unternehmen etwaige Gegenmaßnahmen bereits eingeleitet hat oder plant, solche kurzfristig einzuleiten.

Die Anzeigepflicht entfällt nicht wegen zusätzlicher, insbesondere periodischer Berichtspflichten. Daher reicht es nicht aus, die Anzeige aufzuschieben, bis ein regulärer Bericht ansteht.

Inhaltlich erwartet die BaFin in einer Anzeige nach § 132 Absatz 2 VAG eine Angabe

  • des Zeitpunkts der Feststellung der Verschlechterung und darüber, wie lange diese Verschlechterung schon besteht;
  • der Art der festgestellten Verschlechterung (welche Kennzahl, welches Kriterium oder welcher Schwellenwert über- oder unterschritten wurde);
  • des Ausmaßes der Verschlechterung;
  • der Ursachen für die Verschlechterung sowie eine nähere Analyse der Ursachen;
  • ob und gegebenenfalls welche Gegenmaßnahmen ergriffen wurden oder noch ergriffen werden sollen und bis wann diese Maßnahmen welche Wirkung erzielen sollen.

Sofern einige dieser Angaben noch nicht möglich sind, muss das Unternehmen sie so schnell wie möglich nachholen. Klar ist: Die unverzügliche Meldung an die Aufsichtsbehörde darf nicht verzögert werden, weil noch Informationen fehlen.

Darüber hinaus erwartet die BaFin vom Unternehmen unmittelbar nach der Anzeige geeignete Schätzungen und Projektionen, die jeweils von der konkreten Gefährdungslage und deren Kurz-, Mittel- oder Langfristigkeit abhängen. Nähere Einzelheiten zu Art und Umfang der Schätzungen und Projektionen sollte das Unternehmen mit dem zuständigen Fachaufseher abstimmen.

§ 132 VAG gilt über § 250 Absatz 4 VAG auch auf Gruppenebene

Analog zu Einzelunternehmen müssen auch Gruppen über angemessene Verfahren zur Feststellung einer Verschlechterung der finanziellen Lage der Gruppe verfügen (§ 250 Absatz 4 i. V. m. § 132 VAG). Adressat einer solchen Anzeige ist in diesem Fall die Gruppenaufsichtsbehörde; anzeigepflichtig ist der Vorstand des obersten beteiligten Unternehmens. Allerdings wird eine Anzeigepflicht noch nicht ausgelöst, wenn sich die finanzielle Lage eines einzelnen gruppenangehörigen Unternehmens verschlechtert. Relevant sind vielmehr nur solche finanziellen Verschlechterungen, die die Gruppe insgesamt betreffen.

Schlußbemerkung

Die Anzeigepflicht gemäß § 132 VAG ist ein wichtiger Teil des Risikomanagementsystems. Inzwischen sollten alle Unternehmen in der ein oder anderen Form entsprechende Frühwarnprozesse eingerichtet haben. Gleichwohl hat die BaFin in der jüngeren Vergangenheit ein uneinheitliches Vorgehen bei der Anzeigeerstattung festgestellt. Diese Veröffentlichung soll hier nochmals die aufsichtlichen Erwartungen verdeutlichen.

Die BaFin wird die weitere Entwicklung beobachten und die Handhabung des § 132 VAG in angemessenem zeitlichen Abstand erneut evaluieren.

Verfasst von

Daniel Weingart
BaFin-Referat Nationale Gesetzgebung im Versicherungssektor, Versicherungsrecht

Andrea Groß
BaFin-Referat Solvabilität, Rechnungslegung, Rückstellungen, Berichtswesen

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

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