Erscheinung:26.06.2025 Proportionalität in der Versicherungsaufsicht
Wie berücksichtigt die BaFin das Proportionalitätsprinzip in der Versicherungsaufsicht? In welchen Bereichen und auf welche Weise geht sie in ihrer Aufsichtspraxis proportional vor? Ein Überblick.
Das Proportionalitätsprinzip im Versicherungsaufsichtsrecht ist ein zentrales Instrument bei der Umsetzung der Solvency-II-Regelungen. Es bezweckt, dass regulatorische Anforderungen passend zur individuellen Risikoexposition erfüllt werden. Dabei verfolgt es zwei Zielrichtungen: Einerseits richtet es sich an die beaufsichtigten Versicherungsunternehmen, andererseits an die Versicherungsaufsicht selbst – eine sogenannte doppelte Proportionalität.
Für die beaufsichtigten Unternehmen bedeutet dies, dass sie die aufsichtlichen Anforderungen eigenverantwortlich so umsetzen müssen, dass die jeweils damit verbundenen eigenen Risiken angemessen berücksichtigt werden. Dies setzt auch eine eigene Risikoanalyse voraus. Die Versicherungsaufsichtsbehörde muss wiederum bei der Auslegung der Anforderungen und bei der Beurteilung ihrer Einhaltung gleichermaßen das Proportionalitätsprinzip berücksichtigen. Dazu muss sie ihr Handeln am individuellen Risikoprofil des jeweiligen Versicherungsunternehmens ausrichten. Im Hinblick auf die Rechtsanwendung und -durchsetzung ist die Aufsichtsbehörde daher verpflichtet, ihre Aufsichtsbefugnisse mit demselben proportionalen Blick einzusetzen.
Dieser Ansatz erfordert einen engen Austausch zwischen Unternehmen und Aufsicht zu bestimmten Fragestellungen, um ein gemeinsames Verständnis über die Anwendung des Proportionalitätsprinzips zu erzielen. So erhält das Unternehmen im Kontext seiner speziellen Risikosituation die Möglichkeit, eine individuelle Umsetzung regulatorischer Anforderungen zu realisieren.
BaFin gab Impulse zur Stärkung von Proportionalität in Solvency-II-Richtlinie
Die Anwendung des Proportionalitätsprinzips hängt maßgeblich davon ab, inwieweit das Gesetz der Aufsicht hierfür Spielraum lässt. Eine prinzipienbasierte Ausgestaltung des Gesetzes schafft die notwendigen Voraussetzungen hierfür, da sie es der Aufsichtsbehörde ermöglicht, flexibel auf die individuellen Gegebenheiten und Risikostrukturen der Unternehmen einzugehen. Im Gegensatz dazu lassen regulatorische Vorgaben mit starren und detaillierten Anforderungen keinen Raum für proportionale Lösungen.
Aufgrund ihrer Erfahrungen mit einer flexiblen und risikoorientierten Anwendung des Proportionalitätsprinzips im Rahmen der laufenden Aufsicht setzt sich die BaFin in Europa stets für eine Stärkung des Proportionalitätsprinzips ein – in gemeinsamen Aktivitäten der europäischen Aufsichtsbehörden und auch auf gesetzlicher Ebene. Ein gutes Beispiel hierfür sind die im Rahmen des Solvency-II-Reviews eingeführten neuen Regelungen für kleine und nicht komplexe Unternehmen (Small and Non-Complex Undertakings – SNCU). Die BaFin war hier größtenteils Ideengeber für die gesetzliche Verankerung des Proportionalitätsprinzips zugunsten einer über Schwellenwerte definierten Kategorie von SNCU und auch maßgeblich an der Entwicklung von Vorschlägen für diese Regelungen beteiligt.
Aktuelle Aufsichtspraxis: risikoorientierte Aufsicht und Proportionalität
Die Aufsichtskultur und -praxis der Versicherungsaufsicht ist im Hinblick auf die Implementierung und Anwendung des Proportionalitätsprinzips generell durch einen sehr differenzierten, risikoorientierten Ansatz gekennzeichnet. Ausgangspunkt ist der mit Solvency II europaweit verankerte risikoorientierte aufsichtliche Überprüfungsprozess (Supervisory Review Process – SRP), in den eine regelmäßige Klassifizierung der Risikosituation (Risikoklassifizierung) der Unternehmen auf Einzel- und auch auf Gruppenebene integriert ist. Hierbei fließen verschiedene Bewertungskriterien ein. Bei der Risikoklassifizierung werden beispielsweise anhand zweier Dimensionen sowohl die Bedeutung des Unternehmens für den Markt als auch dessen individuelle Risikosituation berücksichtigt. Der SRP und die darin eingebettete Risikoklassifizierung dienen der Versicherungsaufsicht anschließend zur Steuerung ihrer Aufsichtstätigkeit. Sie bilden die Grundlage für Entscheidungen bezüglich Art, Häufigkeit, Umfang und Intensität von Prüfungshandlungen. Im Übrigen: Das Proportionalitätsprinzip gilt für alle drei Säulen des Solvency-II-Regimes und schlägt sich dort in den jeweils zu erfüllenden Anforderungen nieder.
Säule 1: Kapitalanforderungen – Proportionalitätsprinzip in der aktuellen Aufsichtspraxis
Die quantitativen Anforderungen von Solvency II (Säule 1), also die Bewertung von Vermögensgegenständen und Verbindlichkeiten, die Bestimmung der Kapitalanforderungen und die Bestimmung der zur Bedeckung der Kapitalanforderungen verfügbaren Eigenmittel, sind in weiten Teilen prinzipienbasiert. Beispielsweise enthält die europaweit gültige Delegierte Verordnung 2015/35 der Kommission (DVO) in Kapitel II entsprechende übergreifende Regelungen. Unter Bezug auf das Proportionalitätsprinzip gibt etwa Artikel 9 (4) DVO den Unternehmen in Deutschland unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, Bewertungen aus HGB-Abschlüssen zu verwenden. Die BaFin hat dazu eine konkretisierende Auslegungsentscheidung veröffentlicht. Kapitel III zur Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen enthält einen Abschnitt 6 zu „Proportionalität und Vereinfachungen“. Die dort verankerten Grundsätze setzt die BaFin in ihrer Aufsichtspraxis konsequent um. Sie hat auch Auslegungsentscheidungen dazu veröffentlicht, die die europäischen Regeln in für den deutschen Markt wichtigen Aspekten konkretisieren und somit greifbarer machen. Auch für die Berechnung der Kapitalanforderungen mit der sogenannten Standardformel sieht die DVO explizit verschiedene Vereinfachungen vor, die sich nach „Art, Umfang und Komplexität der Risiken“ richten. Artikel 88 DVO setzt den Rahmen und fordert, dass die Vereinfachung das Risiko nicht unterschätzt. Vereinfachungen für Captives regelt Artikel 89 DVO. Sind die Voraussetzungen erfüllt, ermöglichen Artikel 84 und 90–112b Vereinfachungen für alle Risikomodule, u. a. die Gruppierung von Daten und Expositionen. Wichtig ist auch, dass sich das Proportionalitätsprinzip von der Bewertung in die Stressberechnung fortsetzt. Denn die Standardformel ist keine einfache Formel, sondern legt oft Szenarien fest, in denen Unternehmen ihre Vermögenswerte und Verbindlichkeiten neu bewerten müssen. Dabei ist ein zentraler Grundsatz, dass die Vereinfachungen konservativ ausgestaltet sind, das Risiko also nicht unterschätzen und zu höheren Kapitalanforderungen führen, als wenn die volle Berechnung der Standardformel durchgeführt würde. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Solvency II ein gutes Risikomanagement erreichen soll. Pauschale Vereinfachungen bergen die Gefahr, Risiken nicht nur quantitativ zu unterschätzen, sondern eventuell sogar ganz zu übersehen.
Säule 2: Geschäftsorganisation und Risikomanagement – gelebte Proportionalität in der Aufsicht
Säule 2 zeichnet sich durch eine weitgehend prinzipienbasierte Ausgestaltung der Anforderungen aus. Dies eröffnet der Versicherungsaufsicht einen weiten Spielraum, ihre Aufsichtstätigkeit im Bereich der Anforderungen an die Geschäftsorganisation proportional auszurichten. Das Prinzip spielt hier also eine ganz zentrale Rolle.
Das Proportionalitätsprinzip ist ein wichtiges Element im Rahmen des Risikomanagements. Es bezieht sich immer nur auf die unternehmensindividuelle Risikosituation. Dies gilt unabhängig vom betrachteten Geschäftsbereich. Da das Risikomanagement einerseits dem Risikoprofil angemessen ausgestaltet werden muss und andererseits eine zentrale Stelle für die Bewertung von Risiken sowie die Vorgabe möglicher Handlungen und Maßnahmen für andere Geschäftsbereiche darstellt, sollen nachfolgend mögliche proportionale Gestaltungsmöglichkeiten im Risikomanagement selbst beispielhaft aufgezeigt werden.
Risikoinventur und -bewertung: differenzierte Erwartungen je nach Risikolage
Die breite Anwendbarkeit des Proportionalitätsprinzips in der aufsichtsrechtlichen Bewertung unternehmerischer Maßnahmen zeigt sich bereits bei der Anforderung, dass Versicherungsunternehmen ihre unternehmensindividuellen Risiken regelmäßig und anlassbezogen erfassen und bewerten müssen. Auch dem Prozess der Risikoinventur und -bewertung liegt somit ein proportionaler Ansatz zugrunde. Risiken, denen das Unternehmen eindeutig nicht ausgesetzt ist und sein wird, müssen nicht berücksichtigt werden.
Gleichzeitig kann das Proportionalitätsprinzip jedoch auch eine strengere aufsichtsrechtliche Bewertung nach sich ziehen. Je wichtiger ein Risiko für das Unternehmen ist, desto intensiver ist es in allen Prozessschritten des Risikomanagements zu betrachten. Das gilt auch für die Bewertung: Ausreichend sind dann beispielsweise nicht mehr nur Expertenschätzungen, bestimmte Risiken müssen detaillierter quantifiziert werden. Das Proportionalitätsprinzip kann sich beispielsweise auch auf die Frequenz der Bewertung auswirken: Je angespannter sich die Risikosituation und Risikotragfähigkeit aufgrund eines Risikos darstellen, desto kürzer ist der Zeitraum zwischen den Bewertungen. Proportionalität in der Aufsichtsbehörde bedeutet also eine gestufte Erwartungshaltung der BaFin, die sich an der Risikosituation und der Risikoeinstufung des Unternehmens orientiert.
Proportionalität in der Risikobewertung: einfachere Methoden für Unternehmen mit schwächer ausgeprägtem Risikoprofil
Ein weiterer Aspekt des Proportionalitätsprinzips ist, dass in Unternehmen mit insgesamt schwächer ausgeprägtem Risikoprofil einfachere Bewertungsmethoden bei der Risikobewertung herangezogen werden können. Dies gilt auch für wesentliche Risiken, die nicht im SCR berücksichtigt sind, weil sie sich einer Quantifizierung entziehen. Mit zunehmender Ausprägung des Risikoprofils oder steigender Bedeutung eines Risikos für das Unternehmen erhöht sich jedoch die Notwendigkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem Risiko.
Stresstests: Maßstab ist das Risikoprofil
Auch bei der aufsichtlichen Bewertung der Qualität unternehmenseigener Stresstests richtet sich die Erwartungshaltung der BaFin – entsprechend dem Proportionalitätsprinzip – maßgeblich nach dem Risikoprofil des Unternehmens. In der Regel kann jedes Unternehmen auf dieser Grundlage individuell entscheiden, welche Stresstests in welcher Form sinnvoll sind und durchgeführt werden.
Aber auch hier gilt: Je ausgeprägter das Risikoprofil insgesamt und je wichtiger ein Risiko für das Unternehmen ist, desto umfassender muss sich das Unternehmen mit einem diesbezüglichen Stresstest befassen. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass mehr Aspekte quantifiziert werden, Schätzungen oder qualitative Bewertungen durch quantitative Methoden ersetzt werden oder längere Zeiträume und zusätzliche Risikotreiber in die Analyse einfließen.
Umgekehrt sind die Anforderungen der Aufsicht an Stresstests bei Unternehmen mit einem schwächer ausgeprägten Risikoprofil entsprechend geringer. Für solche Unternehmen kann es daher angemessen sein, anstelle eines eigenen Stresstests auf bestehende Stresstests externer Stellen zurückzugreifen. Beispielsweise können für das operationelle Risiko vorhandene adverse Szenarien im Notfallmanagement herangezogen werden.
Proportionalität in der allgemeinen Governance-Aufsicht: maßgeschneiderte Rundschreiben für unterschiedliche Unternehmenstypen
Proportionalität im Aufsichtshandeln in Säule 2 zeigt sich ferner darin, dass die Versicherungsaufsicht der BaFin anstelle eines pauschalen Einheitsrundschreibens, das sich undifferenziert an alle Adressaten richten würde, drei auf die Besonderheiten von Solvency-II-Versicherungsunternehmen, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV) und kleinen Versicherungsunternehmen im Sinne der §§ 211 ff. Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) – zugeschnittene Governance-Rundschreiben veröffentlicht hat:
- Rundschreiben 2/2017 (VA) – Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen (MaGo für SII-VU),
- Rundschreiben 01/2020 (VA) – Aufsichtsrechtliche Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von kleinen Versicherungsunternehmen nach § 211 VAG (MaGo für kleine VU) und
- Rundschreiben 08/2020 (VA) – Aufsichtsrechtliche Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (MaGo für EbAV).
„MaGo für kleine VU“: Klein, aber gut geregelt – Governance-Erleichterungen für kleine Versicherer
Im Vergleich zu den Rundschreiben „MaGo für SII-VU” und „MaGo für EbAV” sieht das Rundschreiben „MaGo für kleine VU” deutliche Erleichterungen vor. Zugunsten von kleinen Unternehmen im Sinne der §§ 211 ff. VAG geht das Rundschreiben davon aus, dass diese regelmäßig ein schwächer ausgeprägtes Risikoprofil haben. Dies ermöglicht es kleinen Versicherungsunternehmen, die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen flexibler zu gestalten. In diesem Zusammenhang stellen die MaGo für kleine VU beispielsweise die Regelvermutung auf, dass kleine Versicherungsunternehmen per se den Grundsatz der Funktionstrennung einhalten. Die jährliche Überprüfung der schriftlichen Leitlinien zum Risikomanagement, zu den internen Kontrollsystemen und zur Ausgliederung kann bei einem schwach ausgeprägten Risikoprofil und einem stabilen Geschäftsmodell sehr einfach und unbürokratisch erfolgen. Anders als die MaGo für SII-VU und EbAV sehen die MaGo für kleine VU zudem nicht vor, dass eine Ressortzuständigkeit der Geschäftsleitung für das Risikomanagement zwingend bestehen muss. Auch bei der Ausgliederung wichtiger Funktionen bleibt der Rahmen für kleine Versicherungsunternehmen flexibel: Sie müssen nach dem für sie maßgeblichen Governance-Rundschreiben keinen Ausgliederungsbeauftragten bestimmen und der Aufsicht anzeigen, wie dies bei SII-Versicherungsunternehmen oder EbAV der Fall ist.
MaGo für SII-VU und MaGo für EbAV: Proportionalität als Leitprinzip der Governance-Anforderungen
Auch in den beiden Rundschreiben MaGo für SII-VU und MaGo für EbAV findet das Proportionalitätsprinzip seinen Ausdruck und wird durch zahlreiche allgemeine und spezifische Auslegungshinweise konkretisiert. In allgemeiner Hinsicht unterstützen die Rundschreiben Versicherungsunternehmen und EbAV bereits terminologisch dabei, jene Bereiche zu identifizieren, in denen aus Sicht der Aufsicht Spielraum für eine proportionale Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen besteht. Mit der Formulierung „dem Risiko(profil) angemessen” wird angedeutet, dass die Unternehmen in den jeweiligen Bereichen eigenverantwortlich und unter Berücksichtigung ihrer individuellen Risikosituation entscheiden können, welche konkreten Maßnahmen sie ergreifen, um die aufsichtsrechtlichen Vorgaben zu erfüllen.
MaGo-Rundschreiben enthalten eigenes Kapitel zum Proportionalitätsprinzip
Auf übergeordneter Ebene widmen alle Rundschreiben dem Thema Proportionalität explizit ein eigenes Kapitel. Darin legt die Aufsicht dar, wie sich das Proportionalitätsprinzip aus ihrer Sicht auf die Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen auswirkt. Sie nennt die wesentlichen Einflussfaktoren, welche die Ausprägung des Risikoprofils bestimmen: Art, Umfang und Komplexität der mit der Unternehmenstätigkeit verbundenen Risiken, die Unternehmensgröße sowie die Anzahl der Mitarbeitenden. Auf dieser Grundlage erhalten die Unternehmen eine Orientierung, um die regulatorischen Vorgaben entsprechend ihrer individuellen Risikosituation angemessen umzusetzen.
Funktionstrennung: Proportionalitätsprinzip bestimmt aufsichtsrechtliche Erwartungen
Ein anschauliches Beispiel für die proportionale Ausrichtung des aufsichtsbehördlichen Handelns der Versicherungsaufsicht der BaFin ist die Aufnahme spezifischer Hinweise in den beiden Rundschreiben im Zusammenhang mit der Einhaltung des aufsichtsrechtlichen Funktionstrennungsprinzips. Die Rundschreiben verdeutlichen, dass bei einem schwächer ausgeprägten Risikoprofil auf eine strikte Trennung von Zuständigkeiten verzichtet werden kann. Gleichzeitig entfaltet das Proportionalitätsprinzip seine Wirkung in beide Richtungen: Ein stärker ausgeprägtes Risikoprofil erfordert zwingend eine strikte Trennung, insbesondere zwischen dem Aufbau wesentlicher Risiken und deren Überwachung.
Schlüsselfunktionen bündeln? Das Risikoprofil entscheidet über den Spielraum
Auch bei der Bündelung von Schlüsselfunktionen sieht die Versicherungsaufsicht der BaFin Spielraum für eine proportionale Umsetzung der Anforderungen. Dementsprechend heben die Rundschreiben „MaGo für SII-VU” und „MaGo für EbAV” hervor, dass nach Maßgabe des Proportionalitätsprinzips eine Person gleichzeitig als intern verantwortliche Person (IvP) für mehrere unterschiedliche Schlüsselfunktionen innerhalb des Unternehmens tätig sein kann. Mit zunehmender Anzahl der Bündelungen steigt jedoch die Anforderung an die Unternehmen, detailliert darzulegen, dass diese Vorgehensweise ihrem individuellen Risikoprofil entspricht und die Person weiterhin in der Lage ist, die damit einhergehenden zusätzlichen Aufgaben adäquat zu erfüllen.
Flexibilität bei internen Leitlinien
Auch bei der Erstellung interner schriftlicher Leitlinien räumt die Aufsicht den Unternehmen Spielraum für eine proportionale Umsetzung ein. Für Leitlinien, die in § 23 Absatz 3 Satz 2 VAG nicht ausdrücklich erwähnt sind, beispielsweise für die Kapitalanlage, die IT sowie Ethik- und Verhaltenskodizes, können die Unternehmen eigenverantwortlich und risikoorientiert festlegen, in welchen Abständen diese Leitlinien zu überprüfen sind und ob und in welcher Form die Geschäftsleitung bei ihrer erstmaligen Verabschiedung oder bei wesentlichen Änderungen einzubinden ist. Die Überarbeitung des Rundschreibens MaGo für SII-VU enthält einen ausdrücklichen Hinweis auf diesen risikobasierten Ansatz für die Verabschiedung und Überprüfung solcher Leitlinien. Der Entwurf des überarbeiteten Rundschreibens wurde vom 29. Januar bis zum 26. Februar 2025 öffentlich konsultiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags sind die eingegangenen Stellungnahmen bereits ausgewertet und der Entwurf steht kurz vor der Veröffentlichung.
Interne Überprüfung des Governance-Systems
Auch für die interne Bewertung der Geschäftsorganisation gemäß § 23 Absatz 2 VAG besteht Spielraum für eine proportionale Umsetzung. Das Gesetz schreibt kein festes Bewertungsintervall vor, sondern verlangt eine regelmäßige Überprüfung. Die MaGo-Rundschreiben legen fest, dass das Risikoprofil des Unternehmens den Überprüfungszyklus bestimmt. Während Unternehmen mit hoher Risikoexposition ihre Geschäftsorganisation mindestens einmal jährlich überprüfen müssen, können Unternehmen mit schwächer ausgeprägtem Risikoprofil den Prüfungsrhythmus und -umfang flexibilisieren, indem sie die Prüfung in größeren Zeitabständen – etwa alle zwei oder drei Jahre – durchführen. Dabei können die einzelnen Prüfbereiche über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren verteilt werden, sodass in diesem Zeitraum die gesamte Geschäftsorganisation einmal überprüft wird.
Überarbeitung MaGo für S-II-VU: Erleichterungen bei der Risikoberichterstattung durch die unabhängige Risikocontrollingfunktion (URCF) geplant
Auch im Rahmen der Überarbeitung des Rundschreibens MaGo für SII-VU setzt sich die Versicherungsaufsicht für weitere Erleichterungen ein. Ein Beispiel dafür ist die vereinfachte Erfüllung der Berichtspflichten für die URCF.
Das Unternehmen ist verpflichtet, zusätzlich zu ihrem Regelbericht einen jährlichen ORSA-Bericht zu erstellen, in dem es bereits wesentliche Informationen erfasst. Das künftige Rundschreiben stellt klar, dass eine erneute schriftliche Aufbereitung dieser Informationen in einem separaten Bericht an die Geschäftsleitung nicht erforderlich ist, sofern sie nicht für das Verständnis der Aussagen in dem anderen Bericht notwendig sind.
Säule 3: Aufsicht ermöglicht Flexibilität
Unter Solvency II wird in Säule 3 bezüglich der Berichterstattung der Unternehmen an die Aufsicht in der Regel zwischen der quantitativen Berichterstattung – also Zahlen zu Aspekten von Säule 1 – und der sogenannten narrativen Berichterstattung unterschieden. Auch im Rahmen der Offenlegung gegenüber der Öffentlichkeit ist jährlich ein narrativer „Solvabilitäts- und Finanzbericht“, kurz „SFCR“ (Solvency and Financial Condition Report), zu veröffentlichen. Dieser Bericht enthält Darstellungen und Beschreibungen, also „narrative” Elemente, wird aber durch ausgewählte quantitative Angaben ergänzt. Insgesamt sind zwar bestimmte Mindestinhalte vorgegeben, doch richtet sich der Grad ihrer Detaillierung nach der Art, dem Umfang und der Komplexität der Geschäftstätigkeit (§ 40 Absatz 2 VAG). Diesen Grundsatz setzt die BaFin in der aufsichtlichen Prüfung konsequent um. Das trifft auf alle Berichte zu, auch auf die der Aufsichtsbehörde. Beispielsweise muss ein Unternehmen nicht im Detail über das Aktienrisiko berichten, wenn es nur einen sehr kleinen Teil in Kapitalanlagen mit solchem Risiko investiert hat.
Darüber hinaus sind Befreiungen vom quantitativen Berichtswesen nach § 45 VAG möglich, von denen die BaFin auch aktiv Gebrauch gemacht hat. Ferner sehen die europäischen Rechtstexte, wie die Durchführungsverordnung 2023/894, teilweise explizite Schwellenwerte für Teile des quantitativen Berichtswesens vor. Das heißt, Unternehmen müssen die Tabellen nur einreichen, wenn sie gemäß ihrer Geschäftstätigkeit größer sind. Schließlich können für bestimmte unterjährige Meldungen Schätzungen verwendet werden.
Geplante Neuregelungen stärken das Proportionalitätsprinzip
Die am 28. Januar 2025 in Kraft getretene Änderungsrichtlinie (EU) 2025/2 zur Änderung der Solvency-II-Richtlinie führt mit der neuen Kategorie der SNCU ein erweitertes Proportionalitätsrahmenwerk ein. Dafür hat sich die Versicherungsaufsicht der BaFin im Rahmen des Solvency-II-Reviews nachdrücklich eingesetzt. Mit der europaweiten Umsetzung in nationales Recht wird das Proportionalitätsprinzip EU-weit nachhaltig gestärkt. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die BaFin den Unternehmen im Rahmen ihrer bisherigen Aufsichtspraxis bereits viele der Erleichterungen ermöglicht, die mit dem neuen SNCU-Regime EU-weit erst geschaffen werden sollen.
Seit Einführung des Solvency-II-Regimes wendet die BaFin das Proportionalitätsprinzip konsequent an. Gleichzeitig setzt sie sich kontinuierlich dafür ein, Versicherungsunternehmen von unnötiger Bürokratie zu entlasten und bestehende gesetzliche Spielräume gezielt im Sinne der Unternehmen zu nutzen. Ein aktuelles Beispiel ist die Wechselwirkung zwischen der im Rahmen des Solvency-II-Reviews geplanten Anhebung der Solvency-II-Eintrittsschwellen und der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Verordnung (EU) 2022/2554 (Digital Operational Resilience Act – DORA). Es gibt Unternehmen, die derzeit dem Solvency-II-Regime und damit auch den Vorgaben der DORA unterliegen, nach Inkrafttreten der neuen Eintrittsschwellen aber voraussichtlich nicht mehr unter Solvency II und somit auch nicht mehr unter DORA fallen werden. Die BaFin verfolgt hier einen pragmatischen und unbürokratischen Ansatz. Sie hat sich der Stellungnahme der EIOPA angeschlossen und einen risikobasierten Ansatz gewählt. Während der Übergangsphase bis zur Umsetzung der Änderungen aus dem Solvency-II-Review wird sie gegenüber den betroffenen Unternehmen keine aufsichtlichen Maßnahmen auf Grundlage der neuen DORA-Anforderungen einleiten.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sich die BaFin im Rahmen des Solvency-II-Reviews nachdrücklich für eine Anhebung der Eintrittsschwellen eingesetzt hat bzw. hier sogar als Impulsgeberin aufgetreten ist, um durch die Freistellung zusätzlicher Solvency-II-Unternehmen eine regulatorische Entlastung zu erreichen.
Neuer Proportionalitätsrahmen: automatische Anwendung für SNCU, Genehmigung für Nicht-SNCU
Im Zuge des Solvency-II-Reviews wird, wie bereits erwähnt, ein neuer Proportionalitätsrahmen eingeführt, dessen Ursprungsidee maßgeblich von der BaFin initiiert wurde. Der neue Rahmen sieht eine automatische Anwendung der Proportionalitätsmaßnahmen für SNCU vor. Nicht-SNCU können diese Maßnahmen hingegen nur nach Genehmigung in Anspruch nehmen.
Der neue Proportionalitätsrahmen bildet somit lediglich einen regulatorischen Teilaspekt des universellen Proportionalitätsprinzips ab. Das übergeordnete Proportionalitätsprinzip, das im gesamten Aufsichtsrecht wirkt, steht allen Unternehmen weiterhin als allgemeiner Rechtsmaßstab offen. Maßstab hierfür ist und bleibt das unternehmensindividuelle Risikoprofil.
Konkret wird es bspw. in Säule 1 für SNCU und eingeschränkt auch andere Unternehmen möglich sein, in der Standardformel über einen begrenzten Zeitraum für immaterielle Risikomodule keine vollständige Berechnung, sondern eine konservative Fortschreibung zu verwenden. In Säule 2 wird es für SNCU Erleichterungen bei der Bündelung von Schlüsselfunktionen oder der Häufigkeit der unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung und Aktualisierung interner Leitlinien geben. In Säule 3 werden SNCU bei der Befreiung von der quantitativen Berichterstattung bevorzugt, außerdem sind Erleichterungen bei der Häufigkeit des regelmäßigen aufsichtlichen Berichts („Regular Supervisory Report“ – kurz „RSR“) geplant und beim Umfang des SFCR.